Der Fall Relotius:Was wahr ist

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In zahlreichen Reportagen für den "Spiegel" hat der preisgekrönte Journalist Claas Relotius Schicksale erfunden, Details hinzugedichtet oder ihnen einen neuen Dreh gegeben. Leser setzen sich hier kritisch mit diesem Fall auseinander.

Erschüttertes Flaggschiff des deutschen Nachrichtenjournalismus: das Spiegel-Verlagsgebäude in Hamburg. (Foto: JOHANNES EISELE/AFP)

" Die Versuchung" vom 22./23. Dezember und " Die Prüfung" vom 21. Dezember und weitere Artikel zum Betrugsfall Relotius:

Vorbilder Woodward, Bernstein

Nach meiner subjektiven Einschätzung ist Claas Relotius ein Opfer unserer Zeit. Vielleicht eiferte er Mister Trump nach. Unsere jungen Leute stehen unter Erfolgsdruck - sie brennen. Ich will Relotius nicht in Schutz nehmen. Er kam in der Welt herum und schrieb tolle "erfundene" Reportagen, die mit Journalistenpreisen gekürt wurden. Vielleicht ist er ein Karl May des 21. Jahrhunderts.

Wir haben in Deutschland das Glück, dass die Pressefreiheit besteht und geschützt ist. Jungen Journalisten sollte bewusst sein, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Im Journalistengewerbe zählen nur wirklich wahre Fakten. Leider ist es in der heutigen Zeit für einen freien Bürger schwer nachvollziehbar, was wahr und was unwahr ist. Und jeder Journalist sollte nur wirklich wahre Fakten veröffentlichen.

Ich glaube nach wie vor, dass das, was in der Zeitung steht, wahr ist. Die Pressefreiheit wird durch Relotius' Verhalten nicht gefährdet. Und ich werde auch künftig glauben, dass das, was in der Zeitung steht, wahr ist. Für alle Journalisten auf dieser Welt sollten Bob Woodward und Carl Bernstein Vorbild sein. Nur wahre Fakten zählen. Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit oder Lügen gehören nicht in eine Zeitung. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Bernd Marterer, Schopfheim

Wieder mehr Nachrichten

Annette Ramelsberger hat recht, wenn sie die Affäre Relotius als GAU für den Journalismus als Ganzes ansieht. Nun ist niemand, auch keine noch so gut organisierte Redaktion, vor brutalen Fälschern gefeit, wie wir alle den Kriminellen aller Art ausgesetzt sind. Ob die Sicherheitsstandards, deren sich der Spiegel immer wieder selbst rühmt, wirklich so gut sind, kann dahingestellt bleiben. Das Problem liegt woanders.

Der Journalismus in toto, ein höchst wichtiges Organ in einer funktionierenden Demokratie, ist seit Längerem in der Krise. Nicht durch solche Fälschungen, sondern durch die durchgängige Methode, Fakten nicht mehr sachlich zu schildern, sondern durch Aufmachung und Wording gleich unterschwellig zu kommentieren. Die meisten Zeitungen haben eine sogenannte Meinungsseite (in der SZ die Seite 4), wo durchaus meinungsstark argumentiert werden sollte. Nur ist es heute so, dass alle Nachrichten auf allen Seiten kommentiert dargestellt werden. Die Journalisten im zwangsfinanzierten öffentlichen Rundfunk und Fernsehen machen es noch dreister. Sie wählen Bilder und sprachliche "Nachrichten" nach ihrem politischen Sendungsbewusstsein und der Frage aus, was in den funktionärsbesetzten Gremien gerne gehört wird. Wen wundert da noch der Vorwurf der Fake News?

Dr. Claus Helbig, München

Nüchtern und sachlich, bitte

Ehrlich gesagt, wir Leser und wir Nachrichtenkonsumenten sind schon auch mit daran schuld. Ich lese und höre täglich ca. eine Stunde Nachrichten, und wenn das mal nicht geht, fühle ich vor allem eines: eine gewisse Leere, einen Reiz, der fehlt. Fortsetzungsgeschichten müssen weitergehen, ach, ist das spannend, obwohl ich ihn als Präsidenten unmöglich finde, ist er doch ein zuverlässiger Unterhalter, der blonde Egomane aus den USA. Er hat uns die Geschichten erfunden, die wir lesen wollen. Mehr und mehr komme ich zur Überzeugung, dass es bitte wieder Journalismus, nüchtern, sachlich und möglichst ohne Meinung des Journalisten geben sollte. Ich will eine seriöse Zeitung, keinen Tratsch! Bewerten und denken kann ich selber auch.

Wolfgang Neumann, Inning

Hervorragende Aufarbeitung

Laura Hertreiter beschreibt die Folgen aus dem Betrug von Claas Relotius eingehend und nimmt auch zweimal den Begriff der Lügenpresse auf. Leider versäumt sie völlig, darauf hinzuweisen, dass diese Presse auf gänzlich eigene Initiative dem Betrug nachgegangen und ihn aufgedeckt und veröffentlicht hat. Hingegen ist mir kein Fall bekannt, in dem einer der Produzenten der Fake News, die überall, insbesondere in den (a-)sozialen Netzwerken erstellt werden, seine Falschbehauptung als solche bezeichnet hätte. Das ist in meinen Augen der Hauptunterschied zu den Fakern und Trollen allerorten. Dass Menschen erfolgreich betrügen, wird leider das beste Kontrollsystem nicht völlig unterbinden können. Wenn es dann auffliegt, gehört es nicht unter den Teppich, sondern offengelegt. Genau das tun der Spiegel und die seriöse Presse. Lassen Sie sich dieses Qualitätssiegel nicht so billig entwenden.

Dr. Harald Th. Galatis, Altenkirchen

Unter Druck

Ich möchte nichts beschönigen an dem Vorgehen von Claas Relotius. Ich finde aber, wir alle sollten uns Folgendes überlegen. Unter welchem Druck muss jemand stehen, der sich Reportagen teilweise ausdenkt, um Erfolg zu haben. Ist es nicht diese gefährliche Denkweise in unserer Gesellschaft, in der nur "Schneller, höher, weiter, besser" gilt, die sein Verhalten produziert hat? Alles muss noch ausgefallener, origineller, außergewöhnlicher sein. Wir stehen doch beinahe alle unter diesem Zwang, ständig mehr zu liefern - mehr Umsatz, mehr Vertragsabschlüsse, bessere Rendite, höhere Level - in diesem Fall die Suche nach der Wahnsinnsreportage, dem Scoop. Bevor jetzt alle pikiert und entsetzt reagieren, haben wir uns Fragen zu stellen wie: Wollen wir nicht innehalten, um das ganze System zu hinterfragen? Können wir selbst den Gedanken, immer der Bessere sein zu wollen, hintanstellen?

Letztlich kann ich nur mit dem Bibelzitat reagieren, "wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein". Bieten wir Relotius unsere helfenden Hände an und verteufeln ihn nicht.

Christoph Schneckenaichner, Stuttgart

© SZ vom 28.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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