Corona und die Psyche:Sind wir zu empfindlich?

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Ein SZ-Beitrag beschäftigte sich mit den Folgen der Pandemie für die Seele. Es gebe dafür gar nicht genügend Therapieplätze, schreibt eine Ärztin. Das sei ein Luxusproblem, findet ein Leser.

Zu " Das schafft uns" vom 6./7. März:

Das Virus sei "eine Attacke auf die Seele der Menschen", so meint die Autorin, Christina Berndt. "Es zwingt sie dazu, ihr Menschlichstes über Bord zu werfen: die Freude am Miteinander, das Ausdrücken von Liebe, den Wunsch nach Begegnung, Resonanz und Zuwendung."

Und vorher? War es da anders? Hat der Siegeszug von Smartphone und die bequeme Hinnahme eines schon weitgehend digital beherrschten Lebens nicht schon längst unser Miteinander, Liebe, Resonanz und Begegnung ad absurdum geführt? Ist es nicht vielmehr so, dass wir nun, angesichts der Pandemie, unserem längst in uns nagenden Kummer Ausdruck verleihen können? Etwas, das wir vorher nie gewagt hätten, denn: lieb gewonnene Gewohnheiten - davon die Finger zu lassen, das fällt ja so schwer. Umso willkommener all die einschränkenden Maßnahmen, für die wir nun die Politik verantwortlich machen und gegebenenfalls ohne Scheu einen Therapeuten aufsuchen können.

Nein, nicht die Pandemie und deren Begleiterscheinungen schaffen uns. Wie "wenig ernst die Seele immer noch genommen wird", das ist ein Thema, dem sich die Politik schon längst unter gänzlich anderem Vorzeichen hätte annehmen müssen. Dann wären wir jetzt womöglich sogar stabiler. Wir würden es als Herausforderung begreifen, ein vorher so lebendiges Leben zu verteidigen und alles für dessen Wiedergewinnung zu tun - anstatt zu jammern und weiterhin mit dem Smartphone in der Hand dem Gegenüber in die Arme zu laufen.

Christian Schlender, München

Wir reden uns in eine Erschöpfung hinein: Interessenverbände, Medien und einige populistische Politiker. Ja, diese Spaßgesellschaft ist erschöpft, weil sie seit Jahrzehnten (im tiefen Frieden) Partys, Luxusautos und Reisen gepflegt hat. Keine echte Krise musste diese Spaßgesellschaft meistern. Erschöpft waren unsere Großeltern und Urgroßeltern am Ende des Zweiten Weltkrieges, mit der Weltwirtschaftskrise zuvor. Und auch die Nachkriegszeit war kein Zuckerschlecken. Aber wir, 2021, sind erschöpft. Im tiefen Frieden und in einem relativen Wohlstand. Im Corona-Jammertal Deutschland!

Hannes Albers, Usedom

Es ist in der Tat so, dass es schon seit Jahren in Deutschland zu wenig Hilfe für die geschundene Seele gibt. In jedem Jahr erkranken 14 Prozent aller Menschen in Deutschland an einer gravierenden, das heißt dringend behandlungsbedürftigen Depression, Angststörung oder posttraumatischen Belastungsstörung. Das sind also allein wegen dieser drei Diagnosen über elf Millionen Menschen, die jedes Jahr dringend Hilfe bräuchten. Diesen Menschen stehen 6118 niedergelassene Psychiaterinnen und Psychiater gegenüber, das bedeutet 1830 Patienten pro Psychiater und Jahr.

Tatsächlich sind es noch deutlich mehr Patienten, denn es kommen noch Psychosen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen etc. hinzu. Das Jahr hat rund 1800 Arbeitsstunden; es steht also eine knappe Stunde pro Patient und Jahr zur Verfügung! Eine Viertelstunde im Quartal, und das ist tatsächlich die Realität.

Die Zahl der niedergelassenen Psychotherapeuten von 28067 klingt beeindruckend, bedeutet aber, dass 400 Patienten sich eine Therapeutin teilen müssen. Rechnen wir als Mindestdauer einer wirksamen Therapie 20 Stunden, dann ergeben sich 8000 Therapiestunden pro Jahr und Therapeutin.

Dr. med. Gabriel Ehren, Essen

© SZ vom 08.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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