Zu "Müll verpflichtet" vom 22./23. August sowie zu "Beim Containern bleibt das Recht humorlos" vom 19. August:
Das Bewusstsein schärfen
Das Containern von Lebensmitteln bleibt nach dem Urteil vom Bundesverfassungsgericht weiterhin verboten und ist als Diebstahl anzusehen. Zwei Studentinnen aus Bayern hatten Ende 2019 Verfassungsbeschwerde gegen ihre Verurteilung wegen Diebstahls eingereicht, die mit dem Urteil nun abgewiesen wurde. Containern bedeutet, dass man weggeworfene Lebensmittel aus Mülltonnen wieder herausholt, um sie zu verzehren oder an arme Menschen zu verteilen. Interessant ist daher der Hinweis vom Bundesverfassungsgericht, dass man nicht prüfen kann, ob der Gesetzgeber die "zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung" gefunden hat.
So sieht das auch Benedikt Jahnke, der sich in seiner Doktorarbeit mit dem Containern auseinandergesetzt und das Buch "Mülltauchen für eine bessere Welt" geschrieben hat. Hier geht es zuallererst um das Retten von Lebensmitteln, die weggeworfen werden.
Eine große Menge an Lebensmittelabfällen entstehen dabei nicht in Supermärkten und dem Lebensmittelgroßhandel, sondern in Privathaushalten. Rund die Hälfte der jährlich in Deutschland anfallenden zwölf Millionen Tonnen Lebensmittelabfall werfen wir zu Hause weg! Entscheidend ist hier die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung. Bereits in Kitas und Schulen sollte der verantwortungsvolle Umgang mit Lebensmitteln thematisiert werden. Bei einer größeren Wertschätzung für Lebensmittel würde auch die Verschwendung automatisch zurückgehen. Leider gibt es hierzu in Berlin und Brüssel keine Empfehlung für die gesamte EU. In Zeiten der Corona-Krise und der Verarmung vieler Menschen eine katastrophale Situation.
Dirk Wanke, Kiel
Urteil ohne Weitsicht
Verantwortliches Handeln darf nicht strafbar sein. Dieses oberste aller Gesetze sollte auch Richtern klar sein. Die Richtigkeit einer Handlung ergibt sich aus dem Kontext, und je größer der betrachtete Rahmen ist, desto eher ist eine Handlung gerechtfertigt. Mit etwas mehr Horizont hätten die Richter, die jetzt die zwei Containerinnen verurteilt haben, zu einem vernünftigen Urteil kommen können.
Friedhelm Buchenhorst, Grafing
Sache des Gesetzgebers
Der Gesetzgeber könnte die Vernichtung von genießbaren Lebensmitteln verbieten oder das Containern ausdrücklich erlauben. Bisher aber hat er dies nicht getan. Es gibt wohl Gründe, sich über diese Unterlassung zu ärgern.
Das Bundesverfassungsgericht aber bleibt sich anscheinend seiner Rolle bewusst. Die Schranken des Eigentums im Detail zu definieren, ist nicht seine Aufgabe, sondern die des Gesetzgebers.
Axel Lehmann, München
Kein Recht auf Selbstjustiz
Die Richter in Karlsruhe meinten womöglich etwas ganz anderes mit ihrer Entscheidung. Eine Straftat wird nicht dadurch gegenstandslos, dass sie in Begleitung einer moralischen Rechtfertigung daherkommt. Der Gesetzgeber mag Vorschriften machen, wie man mit Müll-Eigentum umzugehen hat, und wenn er das nicht tut, haben Diebe dennoch kein Recht auf Selbstjustiz.
Wegnehmen von Eigentum ist Diebstahl. Und das sollte eigentlich auch so bleiben. Auch dann, wenn dem Dieb die Art, wie der Eigentümer mit seinem Eigentum umgeht, nicht gefällt.
Stephan Gebhardt-Seele, Kolbermoor
Wo die Gerechtigkeit wohnt
Karlsruhe sagt: Wer Lebensmittel aus der Tonne fischt, ist ein Dieb. Ich bin kein Jurist und kenne das Urteil nicht im Wortlaut. Aber so einfach kann es gar nicht sein. Ich habe auch eine Mülltonne, in der ich entsorge, was ich nicht mehr haben will. Insofern gebe ich damit mein Eigentumsrecht am Inhalt meiner Tonne auf. Aber ich würde mich wiederum in meinem Eigentumsrecht verletzt fühlen, wenn irgendwer sich etwas aus meiner Tonne fischte. Wenn ich meinen Sperrmüll zur Abholung auf die Straße stelle, gehe ich davon aus, dass sich jeder, der vorbeikommt und das Zeug brauchen kann, daran bedienen darf - auch dann, wenn eigentumsfundamentalistisch betrachtet, er wohl die Müllabfuhr beklaut. Wenn ich aber vorübergehend meinen Sperrmüll im Garten anhäufen würde, wäre ich schon beleidigt, wenn sich jemand, ohne mich zu fragen, daran bedient. Also ganz so einfach ist das mit dem zu Müll gewordenen Eigentum nicht. Auch dann nicht, wenn es Lebensmittel sind und der Sinn und Zweck der Eigentumsverletzung ein gemeinnütziger ist. Wenn Menschen sich die Freiheit nehmen, die Entscheidungsfreiheit des Eigentümers über seine alten Quarkbecher in seinem Container zu missachten, dann ist die Prinzipienreiterei nicht nur mit Eigentumsfundamentalismus möglich, sondern auch mit Freiheitsfundamentalismus jenseits der Gesetze.
Achtloser Umgang mit Lebensmitteln ist nicht fair, achtloser Umgang mit Protest, der das Verhalten anderer bestimmen will, ebenso wenig. Das Verfassungsgericht entscheidet, was ihm wichtiger erscheint, und das muss natürlich weder mir noch der SZ wichtiger erscheinen. Die Gerechtigkeit wohnt ohnehin in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat - auch Karlsruhe nicht.
Gabi Baderschneider,Sinzing bei Regensburg
Kick für den Underdog
Woher kommt dieser Eigentumsfundamentalismus, der nicht nur große Teile der Gesellschaft leitet, sondern nun auch die höchsten Richter befallen hat? Warum ist die Eigentumswohnung beliebter als die gemietete? Eigentum suggeriert Unabhängigkeit und trügerische Sicherheit, dazu vor allem die Option, nach Belieben verfahren, also uneingeschränkte Herrschaft über seinen Besitz ausüben zu können. Der Kick für den Underdog, endlich kann er herrschen!
Die Wurzeln dieses instinktiven Besitzdenkens reichen hinab bis ins Beutedenken im Tierreich: das geschlagene Zebra des Löwen, die gesammelte Haselnuss des Eichhörnchens - dieser Besitz von Nahrung ist zum Lebenserhalt notwendig und muss gegen andere gesichert werden. Beim Eigner des Containers hinter dem Supermarkt hingegen ist dies nicht geboten, denn seine Existenz wird von der juristischen Straftat des Containerns nicht bedroht. Tatsächlich bedeutet es für den wegwerfenden Eigentümer keinen Unterschied, ob der wirtschaftlich abgeschriebene Containerinhalt von Unbefugten oder wenig später von Beauftragten entnommen wird. Es ist also kein wirtschaftliches, sondern ein juristisches Problem, worauf uns der Jurist Prantl im Kommentar "Müll verpflichtet" mit der Nase stößt.
Hinter dieser zu Recht bemängelten juristischen Prinzipienreiterei versteckt sich die ökonomische Zwangsneurose vom ewigen Wachstum im unveränderbaren irdischen Ressourcenraum, die Ursache von Überproduktion und gleichzeitigem Mangel wegen ungerechter Verteilung. Diesem viel brisanteren Problem sollte sich die Jurisprudenz zuwenden.
Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart