Chemnitz:Eine Stadt außer Kontrolle

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Das Chaos von Chemnitz zeigt: Es gibt Menschen, die an Fakten nicht interessiert sind. Wohl aber an Gründen, ihren Hass auf die Straße zu tragen. Wie konnte es soweit kommen? Damit beschäftigen sich auch die Leser.

SZ-Zeichnung: Karin Mihm (Foto: N/A)

" Bundesregierung verurteilt Hetzjagden" vom 28. August, " Die Ungeheuerlichen" vom 29. August sowie weitere Artikel, die sich mit den Ausschreitungen in Chemnitz befassen:

Instrumentalisiert

Ich bin entsetzt. Es ist ein Mensch getötet worden. Und ganz egal, wie es dazu gekommen ist, wie die Umstände waren, erfordert ein solcher Vorfall doch erst einmal, innezuhalten, diesen Tod zu bedauern, der Familie und den Angehörigen des Opfers zu kondolieren, ihnen gegenüber allgemeines Beileid zu bekunden. Und was geschieht dies bezüglich von Seiten der Politik? So gut wie gar nichts. Keine Worte des Bedauerns, kein Kondolieren, nichts. Die Verwandten und Bekannten des Opfers werden alleine gelassen. Am Tatort befindet sich ein Lichtermeer aus Kerzen. Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Ludwig ist nach meinem Kenntnisstand bis heute kein einziges Mal dort erschienen. Stattdessen versucht sie, wie viele andere Volksvertreter auch, aus dem Tötungsdelikt politisches Kapital zu schlagen. Es ist schockierend, dabei zuzusehen, dass das Opfer überhaupt gar nicht im Mittelpunkt steht, dafür aber von verschiedenen Seiten politisch instrumentalisiert wird.

Timo Görres, Chemnitz

Ernste Sorgen

Es ist einseitig und wird langweilig, wenn alle, die gegen die Politik der Massenmigration und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Leitkultur protestieren, ins rechte Eck gestellt werden und als Nazis bezeichnet werden. Da sind vermutlich viele Menschen dabei, die sich ernste Sorgen um ihre und die Zukunft des Landes machen, aber mit dem rechten Rand nichts zu tun haben. Und wenn eine Demonstration dann als "Hassparade" bezeichnet wird, wird das wichtigste Grundgesetz des Journalismus gebrochen, nämlich Information nie mit Meinung zu vermischen. Vielleicht sollte man den Ursachen und dem Anlass dieser Entwicklung auf den Grund gehen.

Martin Behrens, Wien/Österreich

Die Rolle der CSU

Den Bewertungen von Ferdos Forudastan in "Die Ungeheuerlichen" als auch von Constanze Bullion und Robert Rossmann in "Wie ein anderes Land" ist zuzustimmen. Meiner Meinung nach müsste aber die zunehmend rechte Orientierung der CSU, insbesondere durch Bundesinnenminister Horst Seehofer, stärker und direkter thematisiert werden - dies betrifft sein Reden als auch sein Schweigen. Erst dieses "Spiel" auf Bundesebene zu den Themen Grenzsicherung, Migration, und Flucht über die vergangenen Monate ebnete meiner Meinung nach das Feld für die ungehemmte pogromartige Stimmung in Chemnitz. Und ja, es ist ungeheuerlich. Diese Thematik gehört visuell auch auf den Titel Ihrer Zeitung und nicht ein roter Ferrari - mit diesem Bild leisten Sie leider einen Beitrag zum Verdrängungsprozess und zur Bagatellisierung.

Jens Liebchen, Berlin

Geistige Brandstifter

Hetzjagd von braunen Mob zu verurteilen, verhindert diese menschenverachtende Ideologie nicht! Mit Trauer um das Opfer in Chemnitz hat das, was da jetzt passiert ist, nichts zu tun. Hier nutzen rechte Kräfte diese Tat für sich aus und stellen sich hin als seien sie die "Retter" des Abendlandes und das ist eine erschreckend Entwicklung! Aber auch diverse Politiker sind verantwortlich für diese Entwicklung, denn Sie sind die geistigen Brandstifter und die rechtsextreme Szene fühlt sich durch Sie bestätigt!

René Osselmann, Magdeburg

Kontrollverlus und Unordnung

Der Mob auf den Straßen von Chemnitz erinnert in fataler Weise an Straßenszenen der schwachen Weimarer Republik. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen sind aber kaum zu vergleichen. Dennoch: Lassen wir uns die Radikalisierung eine Warnung sein! Ihrer Eindämmung muss in der Tat eine nuancenreiche Analyse der Ursachen vorangehen. Schwierig und langwierig! Nach den Exzessen der NS-Diktatur hat sich Westdeutschland in einem langsamen Prozess allmählich von zu viel staatlicher Bevormundung befreit und dann 1968 die Ventile individueller Befreiung zu weit geöffnet; das hatte die Anarchie der RAF begünstigt. Mühsam aber erfolgreich wurde 1972 mit dem nicht ganz hasenreinen Radikalenerlass für Behörden gegengesteuert. Die private Entgrenzung feierte in den 1980-er Jahren im Ashram von Poona Triumphe der Selbstverwirklichung und die wirtschaftliche Enthemmung begann mit dem Neoliberalismus von Reagan und Thatcher. Dessen Schrankenlosigkeit führte unter anderem zur Bankenkrise, zum Dieselskandal und massiven Umweltverschmutzungen. Im von der DDR-Diktatur erlösten Ostdeutschland wurden mit den Rechten der Freiheit zu wenig Pflichten verbunden. Voller naiver Freude über die nun liberaleren Gesetze und ohne Rücksicht auf die Folgen erprobte man den Unflat der Sprache, schließlich primitive Gewaltreflexe. Das Pendel gesellschaftlicher Regelungen ist hier wie dort zu weit in Richtung Kontrollverlust und Unordnung ausgeschlagen.

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Wir sind kein Volk

Kohls Wiedervereinigung war ein Schlag ins Wasser. Wir sind kein Volk. Einundvierzig Jahre Bevormundung gehen an einer Bevölkerung nicht spurlos vorbei. Die Bürger der DDR haben nicht gelernt, mit der Demokratie zu leben, sie haben die Gastarbeiter nicht erlebt oder hatten so gut wie keinen Kontakt zu anderen Kulturen. Von daher unterscheidet sich ihre Geschichte fundamental von der im Westen. Im Neudeutschen nennt man das eine Parallelgesellschaft wenn sich Teile der Bevölkerung nicht integrieren können oder wollen. Wenn Nachrichten aus dem Osten kommen, geht es häufig nur um Ausländerfeindlichkeit, Pogrome, brennende Asylantenheime oder eben rechtsradikale Ausschreitungen wie eben jetzt wieder in Chemnitz. Die rechte Szene konnte sich im Schutze der ehemaligen DDR in aller Ruhe unge-stört entwickeln und entfalten. Auch unser Rechtssystem war in diesen Prozess integriert.

Conrad Fink, Freiberg am Neckar

Merkel ist unschuldig

Gestern, 76 Jahre nach der Tat, erhielten wir Gewissheit, dass und wo die meiner Familie nahestehende Jüdin Käthe Spiegel aus Köln von Nationalsozialisten ermordet wurde. Ebenfalls gestern las ich, dass Bundestagsvizepräsident (!) Wolfgang Kubicki die Wurzeln für die rassistisch motivierten Ausschreitungen in Chemnitz im "Wir schaffen das" von Kanzlerin Angela Merkel sieht. Es empört mich und macht mich fassungslos zugleich, wie mittlerweile aus der bürgerlichen Mitte unserer Gesellschaft und nun gar aus der Spitze unserer Staatsführung einem gewaltbereiten Mob und, wenn man's weiterdenkt, verbrecherischen Regimes Legitimationen geliefert werden.

Frau Merkels humane Geste vom Jahre 2015, die auch unter ihren Kritikern eine Welle der Sympathie und Solidarität für Menschen in höchster Not ausgelöst hat, als prima causa für das offene Wiederauftreten von Rassismus und Faschismus zu bezeichnen, ist die Umwertung aller Werte, Herr Kubicki ein Advocatus Diaboli im schlechtesten Sinne. Denken Sie darüber nach, was Sie da gesagt haben, Herr Kubicki! Schämen Sie sich und tragen Sie und ihre Partei dann endlich dazu bei, dass der gesellschaftliche Diskurs weg von stotternden Reflexen wieder in Richtung der unveräußerlichen Werte unserer Verfassung und unseres Zusammenlebens geführt. Als Spitzenvertreter einer Partei mit liberalen Wurzeln sollte Ihnen das gelingen!

Markus Juraschek-Eckstein, Bergisch Gladbach

Dringender Kurswechsel

Es muss eine Kurswende in der Debatte um Flucht und Migration her, fordert die Autorin in ihrem Kommentar zu Recht. Die Ereignisse in Chemnitz, die ja nur einen vorläufigen Höhepunkt eines sich seit Jahrzehnten aufbauenden Rechtsextremismus vor allem im Osten Deutschlands, aber nicht nur, abbilden, schreien geradezu nach einer innenpolitischen Bestandsaufnahme und Kurswechsel. Wären die Ausschreitungen lediglich einem kleineren, überschaubaren Kreis eines braunen Mobs zuzuschreiben, könnte das Problem womöglich durch Sicherheitsorgane wie Polizei, Justiz und Verfassungsschutz gelöst werden. Dem ist leider nicht so. Der Hass gegen den Staat und andersdenkende Bürger geht längst weit über das Spektrum von Hooligans und rechtem Pöbel hinaus: er hat den sogenannten "normalen" Bürger erreicht und droht damit eine Massenbasis zu bekommen. Die Ursachen sind vielfältig und nicht nur der sächsischen Politik anzulasten, wenn diese auch durch ihre Verharmlosung rechtsextremer Vorkommnisse sicher einen großen Teil der politischen Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand in Sachsen trägt.

Horst Isola, Bremen

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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