Boris Palmer:Tabubruch, der Grundwerte infrage stellt

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Der Grünen-Politiker ist schon öfter durch provokante Thesen aufgefallen. Aussagen über die Sterblichkeit älterer Bürger in der Corona-Krise war nun Teilen seiner Partei zu viel und manch Lesern zu nahe am Gedanken der Euthanasie. Einige nehmen ihn in Schutz.

"Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen." Mit dieser Aussage hat sich Grünen-Politiker Boris Palmer angreifbar gemacht. Nun kämpft er um seinen Ruf. (Foto: dpa)

Zu " Ganz brutal" und " Kaltstellen, das reicht", beide vom 5. Mai, " Inakzeptabel" vom 29. April sowie zu " Boris Palmer hat eine Linie überschritten" vom 28. April:

Diskussion nahe der Euthanasie

Der Lockdown, den Deutschland und viele andere Staaten infolge der Corona-Pandemie verfügten, war in erster Linie dem Erhalt von Leben geschuldet. Eine zweite Begründung war, die medizinischen Systeme vor dem Zusammenbruch zu schützen. Mit der Dauer des Lockdown mehrte sich der Druck aus Wirtschaft und Politik, diesen zu lockern, und gipfelte in der Forderung von Wolfgang Schäuble, den Erhalt des Lebens nicht über andere Werte zu stellen. Boris Palmer legte nach, indem er in Zweifel zog, ob es sich lohne, das Leben alter Menschen zu retten, die ohnehin bald sterben.

Wir haben damit eine handfeste Ethikdiskussion, die sich um die Frage dreht: "Wann ist es für die Alten Zeit abzutreten?" oder, unter Einbeziehung wirtschaftlicher Aspekte: "Geld oder Leben?" Während sich Schäuble in seiner Einschätzung auf das Grundgesetz bezieht, in welchem der Schutz des Lebens nicht an erster Stelle steht, setzt die christliche Wertvorstellung mit dem fünften Gebot hier eine klare Priorität: Du sollst nicht töten! Gegen dieses Gebot verstößt auch, wer den Tod anderer Menschen absichtlich zulässt oder fördert. Gerade wir Deutschen sollten uns ob unserer Geschichte in diesem Feld etwas mäßigen. Bei den Nazis hat der Staat bestimmt, was "lebenswertes Leben" ist, und hat angeblich "lebensunwertes Leben" millionenfach ausgelöscht. Daran sollten wir uns erinnern, bevor wir eine Diskussion lostreten, die dem Gedanken der Euthanasie nahesteht.

Conrad Fink, Freiberg/Neckar

Es geht nicht nur um den Ton

Boris Palmer "will seiner Partei das Moralisieren austreiben". In diesem Anklagepunkt würde er sich ja vielleicht sogar schuldig bekennen. Aber ist das ausreichend für Constanze von Bullions Verdikt "Kaltstellen"? Palmer ist ja nicht nur ein waghalsiger Sprücheklopfer, sondern auch ein seit vielen Jahren erfolgreicher Praktiker. Da wären doch seine Taten der schlüssigste Beweis dafür, ob er wirklich nicht (mehr) zu seiner Partei passt. Sprachliche Sittsamkeit ist schön. Am Ende aber sollte zählen, was einer wirklich erreicht hat.

Axel Lehmann, München

Geübtes Provokationsschema

Immer läuft es nach dem gleichen Schema ab. Am Anfang steht die Provokation, dann wird abgewartet, wie die Reaktion ausfällt. Bei einem Sturm der Entrüstung oder Ablehnung rudert der Provokateur zurück. Er hätte es keinesfalls so gemeint, alles ein Missverständnis. Natürlich ist es kein Missverständnis, sondern entspricht der eigenen Einstellung. Mein Mann und ich gehören der Altersgruppe an, der Herr Palmer eine relativ begrenzte Lebenszeit voraussagt. Obwohl schon Jahrgang '50, hoffe ich, die nächsten sechs Monate gesund zu überleben.

Angelika Oden, Berlin

Kosten abwägen ist legitim

Im Kommentar "Inakzeptabel" zu den Anmerkungen von Boris Palmer klingt an, man dürfe über so etwas gar nicht sprechen und es nicht aufrechnen. Dies halte ich für falsch, und es entspricht überhaupt nicht der (vergangenen) Praxis. Es geht hier auch gar nicht um Tabubruch. Natürlich wird über die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zum Schutz von Menschen diskutiert. Immer schon und immer wieder: Ein Abbiege-Assistent für Lastwagen, der Hunderten das Leben rettet - zu teuer und generell nicht möglich. Ein Katalysator für Dieselfahrzeuge - zu teuer und keine Lust bei den Autoherstellern. Mehr als 20 000 überflüssige Tote durch Krankenhauskeime pro Jahr werden in Deutschland geduldet - mit welcher Begründung auch immer, vermutlich ob der Kosten.

In diesen und x anderen Fällen - es wird immer abgewogen: Was sind die Kosten, was ist der Nutzen. Die Diskussion darüber, wie teuer das Retten von Menschenleben durch verschiedene Maßnahmen ist, ist wichtig. Denn die gegenwärtig oft suggerierte Alternativlosigkeit mit einem totalen Primat der Verhinderung von Toten ist für alle Angehörigen von Toten, die durch unendlich billigere Maßnahmen hätten gerettet werden können, schwer nachzuvollziehen. Von den indirekten desaströsen Folgen des Corona-Stillstands mal abgesehen.

Werner Brandl, München

Missbrauch des Vertrauens

Nach der Lektüre der Aussagen von Herrn Palmer komme ich zu dem Schluss, dass ein Amtsenthebungsverfahren angebracht ist. Im Arbeitsrecht ermöglicht ja ein gravierender Vertrauensbruch eine Kündigung. Herr Palmer hat das Vertrauen nicht nur seiner Wähler, sondern der Bevölkerung missbraucht. Mit seinen 47 Jahren lebt er als Politiker von dem, was die älteren Mitbürger, die er jetzt zu "opfern" bereit ist, aufgebaut haben. Würde er sich an den ethischen und moralischen Ansprüchen orientieren, die uns die Grünen vorbeten, wäre ein Amtsenthebungsverfahren nicht nötig, dann würde er freiwillig abtreten.

Josef Feuerstein, Markt Schwaben

Grundrechte jetzt zurückgeben

Das Corona-Krisenmanagement hat die Abgabe der Grundrechte verlangt, um einen Kollaps der Intensivmedizin zu verhindern, damit diese Leben retten kann. Als dies erreicht war, hat man umfirmiert mit der Vorgabe "Leben retten" und hat dabei die Gesellschaft in ein Dilemma geritten. Leben retten versus die Lockerung von Einschränkungen wird nun oft als Totschlagargument benutzt. Die Corona-Maßnahmen werden Leben retten, wenn zeitnah ein wirksamer Impfstoff kommt, ansonsten gibt es lediglich eine Verschiebung der Erkrankung, die auch tödlich sein kann. Leben dagegen rettet ein verschärftes Tempolimit oder das Abschirmen von Gewässern, damit Nichtschwimmer nicht ertrinken. Inzwischen ist das Wissen über Covid-19 ausreichend, sodass jetzt jeder selbst entscheiden kann, was er zu tun hat. Wir brauchen keine weiteren Regeln, höchstens Empfehlungen. Ich jedenfalls will meine Grundrechte wieder, weil das Ziel "Kollaps des Gesundheitssystems vermeiden" erreicht ist.

Dr. Arthur Bächmann, Obermichelbach

© SZ vom 06.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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