Ausblicke:Die Gesellschaft wacht auf

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2020 hat viel Kraft gekostet, aber auch Talente geweckt, Engagement gefordert und Innovationen beschleunigt. Leserinnen und Leser schreiben von Dankbarkeit, Demut und ermutigenden Plänen. Einige üben Kritik, andere haben Zukunftsangst.

Silvestersehnsucht: Um die Notaufnahmen in Kliniken zu entlasten, sollen die Menschen aufs Böllern verzichten. Für viele verständlich, für andere ein Strohhalm an Normalität. (Foto: mauritius images)

Achtung vor Anderen

Wir sollten Abstand nehmen von jedweder Hysterie, den Herausforderungen mit Demut in dem Wissen begegnen, dass jeder Weg endlich ist. Bewahren wir uns vor dem Hochmut, alles erklären und sogar den Tod besiegen zu können.

Wo immer Menschen sind, ob gläubig oder nicht, ob sie sich links, in der Mitte oder rechts verorten: Solange wir Menschen die Achtung vor dem Anderen, dem Andersdenkenden, den Anders-Seienden nicht verlieren, solange uns der Hass nicht nach unten zieht, sondern wir die Welt mit offenen Augen sehen und das Leben in seiner Vergänglichkeit trotzdem lieben, so lange können wir hoffen, 2021 als ein besseres, hysteriefreies Jahr zu erleben.

Carl-Wolfgang Holzapfel, Berlin

Neuentdeckungen in der Krise

Das Gefühl, sich ohne schlechtes Gewissen Zeit zu nehmen, das Gefühl, dem Weihnachtstrubel komplett aus dem Weg zu gehen, das Gefühl, dass der Spaziergang im nahe gelegenen Park ein Geschenk sein kann, und die Neuentdeckung, dass Ruhe noch umsonst zu haben ist, sind die Begleiter, die ich auch im Jahr 2021 nicht missen möchte.

Janpeter Meindl, Darmstadt

Engagement und Innovation

Ich hätte noch vor einem Jahr niemals gedacht, dass unsere Gesellschaft dermaßen zerrissen, polarisiert, radikalen Tendenzen in dieser Größenordnung ausgesetzt ist; dass unter dem Gebrüll des Slogans "Wir sind das Volk" auf Demonstrationen gegen Corona-Regeln verstoßen wird, die eine vom Volk gewählte demokratische Regierung zum Schutz der Gesellschaft und unter solidarischen Opfern der gesamten Bevölkerung verordnet.

Ich bin von der fehlenden Solidarität eines nicht unerheblichen Teils der Gesellschaft maßlos enttäuscht und auch entrüstet - und doch: Es gibt für 2021 und die Zukunft auch Hoffnung! Unsere Gesellschaft wacht auf - sie positioniert sich, sie artikuliert ihre Meinung, sie bringt innovative Lösungen hervor, unterstützt die Schwachen. Wir haben engagierte Politiker in (fast) allen Parteien, die das große Ganze sehen und um die besten Lösungen streiten. Wir haben exzellente Wissenschaftler, die in der Lage sind, schnelle Lösungen zu finden. Gräben werden zugeschüttet und die Pandemie bringt Menschen dazu, miteinander zu reden, sachlich zu streiten und an einem Strang zu ziehen. Hilfsbereitschaft und soziales Engagement blühen plötzlich auf, Kirchen arbeiten zusammen, Menschen zeigen Solidarität weltweit.

Meine große Hoffnung für 2021 und die Zukunft: Eine tatsächlich dauerhafte Veränderung ist in der Gesellschaft in Gang gekommen.

Thomas Schmidt, Allershausen

Dankbarkeit, Demut und Reisen

Jammern ist eine deutsche Tugend, aber nicht meine. Ich habe dieses Jahr vieles richtig gemacht, finde ich. Ich war im Juli im leeren Venedig, zweimal an der holländischen See für einen Tag, ich war jedes Wochenende mit dem Mountainbike im Wald und habe meine engsten Freundschaften gepflegt. Ich bin 2020 dankbarer und demütiger geworden. Beim Gedanken an Gesundheit. Beim Gedanken an Freiheit. Hier in Deutschland konnten wir uns dieses Jahr relativ frei bewegen, im Vergleich zu den Menschen in Italien oder Spanien beispielsweise.

Das Jahr 2020 hat auch den Charakter meiner Mitmenschen klarer hervortreten lassen. Wer denkt quer? Verweigert die Maske? Wer bekam in der Pandemie plötzlich Blockwart-Anwandlungen? Corona hat mir 2020 vor allem gezeigt, was wichtig ist im Leben: Freundschaft, Liebe und ein achtsamer Umgang miteinander. Und natürlich die Gesundheit. Für 2021 wünsche ich mir vor allem, dass wir dieses Virus in den Griff bekommen und sich das Leben wieder normalisieren kann - in allen Bereichen.

Nina Heinrichs, Bochum

Reflexion dringend nötig

2020 hat zumindest die These bewiesen, dass der Bevölkerung schnell und umfassend Verantwortung über Leben und Tod zugesprochen und solidarisches Handeln vorausgesetzt werden kann. Dass dem überwiegend so war, ist sehr erfreulich.

Aber wo ist die Reflexion seitens der Regierung gewesen? Wann werden die Gehälter in der Pflege angehoben? Wann die Schulen renoviert? Wann werden die Massentierhaltung und die Ausbeutung der dort Beschäftigten endlich verboten? Jeder Missstand flog uns um die Ohren, aber Verantwortung übernehmen? Das sollen nur wir. Und das haben wir auch. Der Großteil zumindest. Hoffentlich sind wir am Ende stolz darauf und haben das Schlimmste verhindert.

Toska Damerius, Augsburg

Das Beste draus machen

Ich schreibe aus der Sicht einer Jugendlichen. 2020 war ein Jahr, in dem sehr viele Ereignisse auf einmal passiert sind. Ich habe trotz Pandemie neue Leute kennengelernt, die momentan eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen, aber auf eine andere Art, als wenn jetzt Partys und Freizeitaktivitäten laufen würden.

Schule habe ich auch anders, neu erlebt, denke aber, dass die Umstände zu meistern waren, und in Deutschland die Digitalisierung der Schulen ein Stück weit erzwungen wurde. Online-Unterricht ist keine langzeitige Alternativlösung, da Präsenzunterricht einfach was anderes und unersetzbar ist. Von meinem Wissensstand her, denke ich, dass der Corona-Jahrgang auf jeden Fall Spuren mitträgt, manche Schüler mehr und manche weniger.

Was mich persönlich angeht, nehme ich aus diesem Jahr mit, dass ich, wenn ich irgendwo eingeladen bin oder Zeit und Möglichkeit habe, etwas zu unternehmen, ich das auch machen werde, schon aus Prinzip. Ich ärgere mich, dass ich meine Zeit nicht sinnvoller genutzt habe und sehr viel auf Social-Media-Kanälen war. Ich hätte lieber Zeit mit meiner Oma verbringen sollen, als aufs Handy zu gucken - sie ist während der Pandemie an ihrem Alter und anderen Krankheiten gestorben.

2020 ist viel passiert. Ich habe daraus gelernt, unter anderem Freiheiten zu genießen und die Gesundheit noch mehr zu schätzen. Ich will nun das Beste aus 2021 machen.

Lisa Marie Gruber, München

Perspektiven eines Freiberuflers

Sicher wird auch das Jahr 2021 ganz im Zeichen von Corona stehen. Das bedeutet für einen freiberuflichen Lektor und Layouter von Reiseführern die Fortsetzung eines schmerzhaften beruflichen und finanziellen Niedergangs - es droht das Aus. Ersparnisse und Rücklagen sind 2020 aufgebraucht, 2021 ist die Altersvorsorge dran.

Während Großunternehmen fürstlich alimentiert, "Zombie-Firmen" am unnützen Leben erhalten und Festangestellte mit Kurzarbeit in bezahlte Freizeit geschickt werden, müssen Millionen Freiberufler schauen, wo sie bleiben, und verzweifeln angesichts unvorstellbar weltfremder, aber umso mehr gefeierter "Corona-Hilfen", die mit ihrer Berufs- und Lebensrealität nichts zu tun haben. Nicht dass ich mir Illusionen über "unsere" ökonomische und gesellschaftliche Unordnung gemacht hätte, in der mit einem Mal Gemeinsinn und moralische Werte beschworen werden, als hätten sie im kapitalistischen Kampf aller gegen alle jemals eine Rolle gespielt; aber die autoritäre Arroganz und empathielose Großmäuligkeit, mit der manche Politiker, Virologen, Ökonomen etc. eine Selektionspolitik etablieren, die in "systemrelevante" Berufsgruppen und den überflüssigen Rest unterscheidet, die mit dem Argument der "Alternativlosigkeit" von Entscheidungen jegliche offene Diskussion über politische Maßnahmen für beendet und für überflüssig erklärt, macht mich schon fassungslos.

Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich gesund in Grundsicherung ende (durchaus wahrscheinlich) oder mit Corona im Grab (sehr unwahrscheinlich, bin gesund, keine 90). Beides setzt meinem gelebten Leben ein Ende. Mal sehen, was es 2021 sein wird.

Michael Luck, Rosenheim

Ein Gedankenspiel

Man stelle sich vor: Der "Hohe Evolutionsrat", vergleichbar mit dem traditionellen Aufsichtsrat eines Unternehmens, hat, als höchstes Kontroll- und Sanktionsgremium der Erde AG, seit längerer Zeit beobachtet, dass in der Versuchsabteilung Säugetiere, Projektgruppe Mensch,einiges schiefläuft. Bezeichnenderweise hat diese Entwicklung eingesetzt, als dieser Gruppe eine große Autonomie eingeräumt wurde. Sie war in ihrer Lebensführung nicht mehr dem Instinkt unterworfen. Als Folge davon wurden die vorgegebenen Pläne und Weisungen der Steuerungsgruppe auf allen operativen Ebenen ignoriert. Die Lagerbestände geplündert, als wären sie unerschöpflich. Die Energieproduktion wurde in einem Ausmaß gesteigert, dass die Kreisläufe der Natur und das Gleichgewicht des Klimas so stark gestört wurden, dass die Erde wahrscheinlich dem Bankrott entgegengeht. Die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung beim Einsatz der menschlichen Ressourcen sind katastrophal - ganz zu schweigen von den Verteilungsprogrammen. Die verantwortlichen Projektleiter, von der Firmenleitung mit besonders hoher Intelligenz ausgestattet, setzen diese ein, um die chaotischen Entwicklungen noch zu steigern.

Ursprünglich sollte das Projekt Erde zu einem einmaligen kosmischen Vorbild entwickelt werden. Danach sieht es zurzeit nicht aus. Im Gegenteil. Der Evolutionsrat hat daher beschlossen, diesem Treiben ein Ende zu setzen und als erste Maßnahme die Belegschaft zu reduzieren. Er hat ferner beschlossen, dies operativ über das Dinosaurier-Programm abzuwickeln. Diesmal allerdings nicht durch einen Meteoriten, sondern mit einem Virus. Sollte diese Maßnahme nicht nachhaltig sein, stünde noch der Klimawandel als Ende des evolutionären Experiments zur Verfügung.

Helma und Udo Fleischhauer, Rheinbach

Kratzer und den Blick nach vorn

2020 sollte ein Jahr der Feierlichkeiten werden: mein 60. Geburtstag, 20 Jahre glücklich verheiratet, unser kleines Apartment in meiner bayerischen Heimat sollte im Sommer bezugsfertig sein. Doch dann kam der 15. März und ein wochenlanger Lockdown begann. Spanien, das Land, in dem meine Frau und ich seit vielen Jahren leben, wurde von einer Welle erfasst, die alles mitzunehmen schien, was uns am Herzen lag: unsere kleine Firma, die langen Spaziergänge, die Treffen mit Freunden ... Was blieb, war Sorge, Angst, Ratlosigkeit.

Und obwohl 2020 nur mühsam zu verstreichen schien, sind wir am Jahresende angekommen, mit ein paar Schrammen und Kratzern zwar, doch gesund und mit dem Blick nach vorne. Unser Geschäft steht wieder, unsere Familien sind wohlauf, und für das neue Jahr wollen wir uns diesen Spruch von Alfred Lord Tennyson zu eigen machen: "Hope smiles from the threshold of the year to come, whispering ,it will be happier'."

Winni Schindler und Sarah Lothian, Zaragoza/ Spanien

© SZ vom 31.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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