Armut:Das erzeugt Wut

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Die SZ-Kolumnistin Jagoda Marinic hat jüngst die Armut in Deutschland als bestens erforscht und doch unsichtbar bezeichnet. Das sieht eine Leserin anders. Sie beklagt vor allem die zunehmende Armut der Mittelschicht.

" Armut" vom 8./9. September:

Die Ausführungen von Jagoda Marinic kann ich nur befürworten, aber ein wichtiger Teil fehlt: Armut und der langsame Abstieg in die Armut sind nicht unsichtbar. Wer seine Umwelt aufmerksam wahrnimmt, der wird beobachten, dass die seit Jahren zunehmende Armut, auch in der Mittelschicht, sehr sichtbar ist, obwohl viele der Betroffenen sie tatsächlich lieber verstecken würden.

Da werden etwa notwendige Haus- oder Wohnungsrenovierungen ständig aufgeschoben, Urlaube, Theater-, Kino- und Restaurantbesuche werden reduziert oder abgesagt, immer mehr Menschen greifen im Supermarkt zu den bereits abgelaufenen und deshalb billigen Lebensmittel, in einer Bäckerei gibt ein Kunde empört sein Stück Kuchen zurück, als er den Preis erfährt (2,70 Euro), Vollzeit Arbeitende brauchen noch einen Zweitjob, um sich das alltägliche Leben leisten zu können, selbst in kleinen Städten.

Jetzt kann man einwenden, was soll da so schlimm sein, wenn der Putz bröckelt, die neue Waschmaschine per Ratenzahlung abgestottert wird und wenn die Billig-Fertigpizza zu Hause den "Italiener" um die Ecke ersetzt? In anderen Ländern sind die Menschen schlechter dran. Es geht hier aber um den Lebensstandard in Deutschland, um das Nicht-mehr-teilhaben-Können, um die große Kluft zwischen Arm und Reich, um die täglichen, millionenfachen, kleinen Ungerechtigkeiten, um das Gefühl der Ohnmacht, letztlich um die sozialen Fragen in unserem Land. Die Menschen lassen sich nicht mehr von dem Satz "Deutschland geht es gut" einlullen, der vor allem für eine Wirtschaftselite gilt, die vom Export und von der Globalisierung profitiert. Während die Reallöhne in den vergangenen 20 Jahren kaum gestiegen sind und die Menschen sich immer weniger leisten können - und es geht hier nicht um Luxus-reisen oder teure Hobbys. Während Banken mit Steuergeldern gerettet und gleichzeitig soziale Wohnungsbauten an private Investoren verramscht werden.

Das erzeugt Wut. Wut über eine Politik (und ihre Vertreter), die nicht imstande ist, auch im Sinne der Armen und derer, die sich täglich vergeblich abstrampeln, zu handeln. Wut über eine intellektuelle Elite, die mit überheblich großbürgerlicher Attitüde verwundert darüber schwadroniert, dass in deutschen Großstädten immer mehr abgerissene, keifende und unfreundliche Menschen durch die Straßen laufen. Wut darüber, dass sie ihren Kindern kein besseres Leben mit sozialem und wirtschaftlichem Aufstieg bieten können.

Dieser Wutbürger wurde und wird von der etablierten Politik ignoriert. AfD und Pegida haben sich seiner angenommen. Die Flüchtlinge haben "nur" die Sündenbock-Funktion, um von den wirklichen Problemen im Land abzulenken und die Macht der Rechten zu stärken.

Gabriele Lauterbach-Otto, Überlingen

© SZ vom 21.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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