Anne Spiegel:Jung, weiblich und völlig überfordert als Ministerin

Der Rücktritt der Grünen-Familienministerin sei überfällig gewesen, finden viele. Es gibt aber auch Stimmen, die darin eine Degradierung von Frauen sehen. Schuld sei vor allem Friedrich Merz, andere machen den Proporz dafür verantwortlich.

Anne Spiegel

Anne Spiegel verteidigt ihren vierwöchigen Urlaub, entschuldigt sich. Später tritt sie doch zurück.

(Foto: dpa)

"Wir leben in einer sehr brutalen Gesellschaft" vom 13. April, "Entschuldigen Sie mal" und "Ein Versäumnis zu viel" vom 12. April und weitere Artikel:

Billige Rechtfertigung

Anne Spiegel ist zurückgetreten. Vielversprechend war sie als Familienministerin der Ampelregierung angetreten, hat sich beispielgebend zu ihrer persönlichen und familiären Situation geäußert. Ich war von ihr sehr angetan. Bis zu dem Tag, als öffentlich wurde, dass das Ahrtal in der Flut unterging und Anne Spiegel später mitriss. Das Bekanntwerden ihres vierwöchigen Urlaubs in Frankreich, ihrer Korrespondenz, in der ihr Gendersprache wichtiger war als die bedrohliche Hochwasserlage, die SMS an ihren Pressesprecher, das Blame Game könne sofort losgehen: "Wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe." Das alles offenbart wenig politischen Instinkt. Und wie sehr politische Arroganz und Selbstherrlichkeit bei ihr dominieren. Dass sie danach die Lüge auftischte, sie habe an Kabinettssitzungen teilgenommen, was sie später scheibchenweise zurücknehmen musste, ist die Spitze des Eisbergs.

Wenn sie in einer Pressekonferenz über die Krankheit ihres Mannes vor zwei Jahren, die Überlastung ihrer Kinder in der Corona-Pandemie und ihre eigene lamentiert, sieht das für mich nach billiger Rechtfertigung aus, nicht nach Übernahme von Verantwortung. Deshalb konnte ich den Auftritt nicht berührend empfinden. Zumal es Tausende gibt, die unter erheblich schlechteren emotionalen und sozialen Bedingungen das aushalten mussten und sich nicht in einen Urlaub retten konnten.

Hier Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das Recht auf Fehler, das soziale Miteinander und Toleranz zu vermengen, ist nicht zielführend. Die Fehler von Anne Spiegel kann ich nicht als Resultat der von ihr geschilderten Lebenssituation sehen, sondern sie sind von ihr bewusst begangen worden, in der Hoffnung, es wird schon keiner merken, und um ihre Position zu retten. Das zu kritisieren hat nichts mit Intoleranz zu tun, sondern mit dem Anspruch auf Wahrheit, verlässliche Information, Verantwortung.

Ulrike Saur, Ebenhausen

Wer schaut auf Qualifikation?

Der Rücktritt der Ministerin ist richtig. Ich frage mich aber, wer hat denn vor der Einstellung oder Berufung die Qualifikation, die bisherige Amtsführung, das Verantwortungsbewusstsein der Kandidatin mit der gebotenen Gründlichkeit angeschaut? Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Rücktrittsgrund nicht intern längst bekannt war - zumindest auszumachen war. Oder fällt es schon gar nicht mehr auf, wenn eine Ministerin vier Wochen fehlt? So hat man wieder nichts als hohe Kosten und Kopfschütteln, verbunden mit einer weiteren Verunsicherung beim Bürger, produziert.

Jürgen Dorn, Pullach

Degradierung von Frauen

In der Debatte um die nun ehemalige Bundesfamilienministerin geht es erstaunlich oft um Anne Spiegel. Wo war sie wann, was hat sie gesagt und was nicht. Am meisten wundert sich darüber wahrscheinlich Andreas Scheuer: Wieso sollte man als Minister oder Ministerin bei Fehlverhalten zurücktreten und warum geht es so viel um Spiegels Familie? Unter den Tisch zu fallen scheint, wie einschneidend der Rücktritt für die feministische deutsche Politik ist. Annalena Baerbock, Nancy Faeser, Christine Lambrecht, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und jetzt Anne Spiegel - die Union schießt seit Wochen gegen sämtliche Politikerinnen der Koalition.

Mit der AfD und der rechten Bubble im Netz hat Friedrich Merz (CDU) die frauenfeindliche Unterstützung, die er bei seinem Feldzug gegen die politischen Gegnerinnen braucht. Nicht mal die Landtagswahl im Saarland bekam so viel Aufmerksamkeit seitens der Union wie die Degradierung von Bundesministerinnen. Mit dem neuen Vorsitzenden ist die antifeministische Haltung der CDU klarer geworden als in den letzten zwanzig Jahren. Von der Leyen, die vielleicht einzig wichtige Frau der CDU, scheint für die Partei in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr zu spielen.

Dass Spiegel Fehler gemacht hat, ist unbestreitbar. Der Rücktritt mag richtig sein. Richtiger wäre er aber, wenn auch männliche Minister für ihr Fehlverhalten Konsequenzen ziehen müssten. Der Hass gegen Frauen im Netz wird unterschätzt und seine Wirkung runtergespielt. Dass die Ex-Ministerin geht, ist ein Erfolgserlebnis für alle, die Frauen aufgrund ihres Geschlechts, ihre Kompetenzen abschreiben wollen. Dass die Familie der Politikerin dabei eine derart große Rolle gespielt hat, scheint für die Konservativen wohl wie die Kirsche auf dem Sahnehäubchen zu sein. Die Genugtuung der Frauenhasser und -hasserinnen wird gestärkt durch die sexistische Polemik der Union. Der richtige Rücktritt von Anne Spiegel wirft uns in einer feministischen Politiklandschaft zurück, und es zeigt sich mal wieder: Welche Frau etwas falsch macht, die macht dies, weil sie eine Frau ist.

Fanny Karos, München

Warum Bundesministerin?

Es gibt viele Frauen und Männer in diesem Land, die sich in ihre Berufe und Aufgaben "reinhängen", wohl wissend, dass ein bestimmtes Maß an Wissen, Können und Verantwortung in vier oder sechs Stunden pro Tag nicht zu leisten sind. Es sind Schuldirektoren, Unternehmer, Leitende Beamte, Ärzte und viele andere mehr. Viele von uns sind froh, wenn beispielsweise der Strom ausfällt, unser Kind Probleme hat oder wir krank werden, dass dann jemand seine privaten Interessen unterordnet und sich stattdessen in seinem Job Zeit für uns nimmt, gut ausgebildet und vorbereitet ist und richtig gute Arbeit macht. Mein erster Impuls ist daher: Können wir bitte diejenigen loben, die ihre Sache gut machen, und zwar weil sie Zeit und Mühe dafür aufwenden? Und nicht Anne Spiegel für eine Ehrlichkeit loben, obwohl sie nur halb gute Arbeit machte, auch wenn die menschliche Seite berührend ist? Bei allem menschlichen Verständnis für ihren Kummer möchte ich ihr vorwerfen: Warum ist sie überhaupt Bundesministerin geworden?

Wenn sie sich bereits im Sommer 2021 in der Flutkatastrophe als erschöpft und nicht als gute Krisenmanagerin wahrgenommen haben muss; wenn sie schon damals spürte, dass ein kranker Ehemann, vier Kinder und das Amt als Landesministerin eine zu große Belastung sind, warum hat sie dann im Dezember 2021 den Ruf als Bundesministerin angenommen? War es die Aussicht auf monetären Verdienst? Oder was noch schlimmer wäre: War es das Proporzdenken der Parteien, die noch ein junges, grünes, weibliches, linkes oder wie auch immer passendes Puzzleteil für ihr Kabinett brauchten und Anne Spiegel drängten? Wenn Letzteres der Fall wäre, dann ist diese Art der Ämtervergabe der falsche Weg.

Dr. Michaela Beha, Amberg

Geschlecht wichtiger als das Land

Den Grünen ist der Proporz sehr wichtig. Vielleicht zu wichtig? Nach dem Desaster mit Anne Spiegel müsste die Partei diese Haltung überdenken. Wenn nicht, bleibt mir als grüner Stammwähler nur die schmerzhafte Erkenntnis: Den Grünen ist das Geschlecht wichtiger als das Wohl des Landes. Zeit, beim nächsten Mal eine andere Partei zu wählen.

Gösta Niedderer, Tann/Schweiz

Kein Rückhalt bei den Grünen

Die Gründe, die Anne Spiegel als Entschuldigung anführt, sind letztlich völlig egal. Zum Rücktritt zwingt sie das politische System. Ob Regierungspartei oder Opposition, sobald sich nur der geringste Ansatzpunkt für eine Rücktrittsforderung gegen einen Politiker finden lässt, wird dessen Eliminierung betrieben. Und nachdem die Grünen dies von der Oppositionsbank aus über viele Jahre praktiziert haben, können sie sich dieser Forderung nun, da sie selbst betroffen sind, schwerlich verschließen, woraus auch der fehlende Rückhalt für Anne Spiegel in der eigenen Partei resultiert. So berechtigt mir Rücktrittsforderungen in manchen Fällen erscheinen, oftmals denke ich, ich sehe Kindern im Kindergarten zu... Und wir Steuerzahler finanzieren das noch gezwungenermaßen.

Josef Feuerstein, Markt Schwaben

Flucht nicht möglich

Anne Spiegel hat leider eindrucksvoll bewiesen, dass Frauen mit Familie unter Umständen mit verantwortungsvollen Posten überfordert sein können - sei es mit oder ohne eigene Schuld. Unsere Gesellschaft ist wirklich brutal, ganz wie die SZ titelt, das macht es aber nicht besser: Kann man sich vorstellen, Präsident Selenskij würde wegen familiärer Probleme die Verteidigung seines Landes abbrechen? Oder Annalena Baerbock träte zurück und tauchte ab... und wie war das noch bei Karl-Theodor zu Guttenberg, der wegen seiner "schwierigen familiären Situation" offenbar bei seiner Doktorarbeit geschlampt haben will? Ich weiß noch gut, wie wenig Verständnis dies in den Reihen der Grünen auslöste, dafür aber Hohn und Verachtung.

Es gibt Posten, da gehen solch ein Versagen und solch eine Flucht einfach nicht. Mir ist bewusst, dass meine Zuschrift inhaltlich nicht "politisch korrekt" ist - aber inhaltlich richtig ist sie allemal. Anne Spiegel hat definitiv einen sie überfordernden Posten übernommen, eine Weile versucht, ihn auszufüllen, sich nicht eingestanden, dass es nicht funktioniert, und damit "Schaden an der Bevölkerung" angerichtet. Und jetzt hat nicht sie versagt, sondern der Rücktritt war nur wegen "des politischen Drucks" nötig? Das macht sehr nachdenklich.

Gabriele Bienwald, Gauting

Mit Kalkül

Wenn eine Politikerin mitleiderregend von ihrer starken Belastung durch vier Kinder und einen durch Krankheit behinderten Mann von ihrem politischen Versagen ablenken will, zeigt dies deutlicher als ihr Versagen bei der Katastrophe im Ahrtal, dass sie in der selbst gewählten Position als Familienministerin mit ihrer feministischen Einstellung ungeeignet ist. Aus Karrieresucht, Ehrgeiz, Machtstreben dem angeblich nicht belastungsfähigen Mann die Kinder aufzuhalsen, um einen besser bezahlten, einflussreicheren Posten zu übernehmen, ist in dieser Position schon aus sozialer Sicht als Familienministerin unsäglich.

Ich habe mir als niedergelassener Arzt und fast 20 Jahre als Leitender Notarzt nie mehr als zwei Wochen Ferien gönnen können, bei Verantwortung nur für mich und meine Angestellten. Und hier verschwand eine Ministerin, die an der Spitze des Staates für Millionen Menschen Mitverantwortung trägt, für vier Wochen während einer Katastrophe aus dem Tagesgeschehen in die Ferien - ein für mich völlig verantwortungsloses soziales Verhalten gegenüber den Bürgern. Für mich als Arzt stellt sich auch die Frage, welche Dauerschäden der Ehemann zurückbehalten hat. Ein Schlaganfall kann einen Menschen zum Pflegefall machen, aber auch "nur" eine Sprachstörung verursachen. Das pauschale Schlagwort Schlaganfall ruft emotional richtigerweise großes Mitleid hervor, aber das hat diese Frau wohl bewusst bei ihrer Selbstdarstellung einkalkuliert.

Dr. med. Helge Scheibe, Bad Krozingen

Adenauer machte länger Urlaub

Anne Spiegel ist zurückgetreten. Endlich, feixt die Meute. Dass die Springer-Presse das lautstark einforderte, versteht sich. Alle wollen Urlaub haben, wenn ihn jeder nimmt, ist es auch nicht recht. Entlarvend war die 6:0-Abstimmung der Grünen-Spitze. Annalena Baerbock fand kein Pardon. Letztes Jahr hatte sie überall verkündet: "Eine Mutter kann alles." Nun gesteht Familienministerin Spiegel, dass dem nicht so ist. Das geht ja gar nicht. Nun hat Baerbock geholfen, sie politisch auszuschalten.

Der Focus schrieb über Spiegels Entschuldigungsrede: "Sie irritierte das staunende Publikum mit Familieninternas, die keiner bestellt hatte." Nach dem Rücktritt tritt der Bund der Steuerzahler nach und fordert, dass die 4,5 Monatsgehälter, die Anne Spiegel nach ihrem Rücktritt erhält, "völlig überdimensioniert" sind und die Regelung abgeschafft gehört. Dass sie nicht durch ein Bundestagsmandat abgesichert ist, interessiert niemanden. Warum auch? Schadenfreude war schon immer die schönste Freude. Wie kann man auch für vier Wochen mit der Familie in den Urlaub fahren? Zur Erinnerung: Konrad Adenauer verbrachte deutlich längere Zeiten in seinem Domizil am Comer See und ließ als Kanzler das Land allein. Otto von Bismarck zog sich auf sein pommersches Gut zurück. In Berlin wurde trotzdem regiert. Wenn man etwas von ihm wollte, musste man ihn auf der Jagd suchen.

Dr. Detlef Rilling, Scharbeutz

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