Analyse der SPD:Zu viele Kompromisse, zu wenig Getrommel

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Die Sozialdemokraten stecken in einem Dauertief fest. Wie ist die einstige Volkspartei in diese Misere geraten? Leser diskutieren, welche Fehler die SPD zu verantworten hat - und welche nicht.

Will die Sozialdemokraten aus dem Umfragetief herausboxen und nächster Bundeskanzler werden: Olaf Scholz, derzeit Vizekanzler. (Foto: dpa)

Zu " Ganz großes Kino" vom 5. August, " Die Selbstzerstörung" vom 24. Juli und " Auf, auf zum Kampf" vom 13. Juli.

Die Angst, Wähler zu vergrätzen

Wenn man wie ich 54 Jahre Mitglied der SPD ist, ist es psychisch unmöglich auszutreten. Der erste grundlegende Fehler der Partei war die Akzeptanz des marktliberalen Wirtschaftens durch das Führungstrio Lafontaine, Scharping und Schröder sowie das Festhalten daran durch den Finanzminister Eichel.

Ich erinnere mich noch gut an das begeisterte Staunen, als durch einen SPD-Finanzminister der steuerliche Höchstsatz um die Jahrtausendwende von 53 auf 42 Prozent gesenkt wurde. Und ich erinnere mich auch daran, dass die Höhe des Mindestsatzes von Hartz IV nicht am Bedarf des Beziehers, sondern an dem, was die Staatskasse nach der großen Steuersenkung ausgeben konnte, ausgerichtet wurde. Deswegen lag er bei 345 Euro statt bei, wie von der Hartz-Kommission vorgeschlagen, 511 Euro im Monat. Mit 446 Euro liegt der Mindestsatz heute immer noch knapp 13 Prozent unter dem Vorschlag der Hartz-Kommission von vor über 16 Jahren.

Der zweite grundlegende Fehler liegt in der innerhalb meiner Partei verbreiteten Angst, man könne die Wähler durch mutige Entscheidungen vergrätzen. Die Wähler sind oft mutiger, als es viele SPD-Funktionäre wahrhaben wollen. So gab es keinen Aufstand des Wahlvolkes, als Gabriel die "Ehe für alle" nach einem Merkel-Interview durchsetzte. Als im Spätsommer 2015 Hunderttausende von Migranten nach Deutschland kamen, war die Mehrheit im Land für deren Aufnahme. Leider unterstützte der Juniorpartner der damaligen großen Koalition, die SPD, Merkels "Wir schaffen das" nicht so, dass Seehofers Obstruktionen ins Leere gelaufen wären. Die Angst vor Wählervergrätzung ist übrigens auch eine entscheidende Ursache für innerparteiliche Konflikte und Illoyalität.

Eine Partei ist meines Erachtens eine Volkspartei, wenn sie dank ihrer Programmatik für nahezu alle Bürger eines Landes wählbar ist. Dies trifft wegen der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf die SPD zu, auch wenn sie zurzeit bei etwa 15 Prozent in den Umfragen hängt. Diese Grundwerte fordern, dass sich SPD-Politik mit allen Menschen in prekären Situationen befasst, also nicht nur mit Arbeitslosen, sondern ebenso mit Minderheiten wie Homosexuellen oder Migranten. Die SPD hat es nicht verstanden, dies den Deutschen in prekären Lagen zu vermitteln, beispielsweise durch Korrekturen an den Hartz-Gesetzen.

Dietram Hoffmann, Überlingen

Seifenoper statt Comeback

"Das Comeback der SPD" will die SPD mit ihrer Kampagne einläuten. "Scholz packt das an!", lautet der Slogan. Was denn bitte? Die zweitgrößte Regierungspartei hat den Wahlkampf bislang nicht mit einem zündenden Thema befeuern können. Sie verkauft weder ihre Leistungen in der Groko, noch ist ihr ein großes Vorhaben für die nächsten vier Jahre eingefallen. Bei allen diskursbestimmenden Themen - Klimawandel, Corona, zuletzt die Flutkatastrophe - hat die SPD wenig zu bieten. Ihr Spitzenmann, der blasse Herr Scholz, steigert seine Beliebtheitswerte, weil die Konkurrenz Fehler macht, aber nicht, weil er so überzeugend ist. Das verhilft seiner Partei nicht aus dem Dauertief von 15 Prozent. So ist es dann wohl eher eine schwache Seifenoper, die die SPD darbietet. Comeback sieht anders aus.

Stefan Kaisers, Gießen

Bescheidenheit ist eine Zier ...

... doch weiter kommt man ohne ihr. Bei diesem Satz denke ich unweigerlich an die SPD. Gerade sie ist zum jetzigen Koalitionspartner viel zu anständig und viel zu bescheiden. Genau gesehen hatten die wesentlichen Erfolge der letzten Regierungsrunde nur einen Vater: die SPD.

Gerade die SZ unterstützt meines Erachtens die besagte Selbstzerstörung der Partei viel zu häufig: Was bei anderen nur Bagatelle, ist hier oft schon ein Grund zum Rücktritt. Dank der Medien hat die Meinungsbildung eine klare Richtung bekommen: Milde bei denen, die es nicht nötig haben, Strenge bei denen, deren Ziele zwar der Mehrheit, aber nicht den wenigen in der Upperclass passen. Und last but not least ein fast schon peinliches Gepämpere des neuen möglichen Koalitionspartners.

Stephan Hansen, Ergolding-Piflas

Vergessene Sozialkonservative

Als "Willy-Brandt-Kind" in die SPD eingetreten kann ich (leider) der "Fehleranalyse" über die SPD nur zustimmen. Nach jeder verlorenen Wahl heißt es: "Wir müssen noch linker werden." Die sozialkonservativen Bürger werden damit vergessen. Dabei waren diese die treuesten SPD-Wähler. So konnte sich jetzt nach den Linken und den Grünen auch die AfD erfolgreich daranmachen, einstige sozialdemokratische Wähler zu gewinnen. Dessen ungeachtet kämpfen rechter und linker Flügel unerbittlich um den wahren Weg. Die größten Gegner werden in der eigenen Partei verortet, was zu einer "Kontinuität der Selbstzerstörung" führt. Das ist inzwischen der Hauptgrund, dass die SPD nicht mehr gewählt wird. Der von den SZ-Autoren vorausgesagte Weg zu einer Splitterpartei ist damit leider nicht mehr undenkbar.

Peter Paul Gantzer, MdL a.D., Haar

Schreiend für ihre Ziele werben

Die SPD ist für Soziales zuständig, nicht für irrationale Ängste. Soll sie sich zu den Modernisierungsgegnern gesellen? Oder soll sie die Ausländerpolitik der AfD kopieren? In beiden Fällen ginge ein Markenkern der SPD verloren: die Hoffnung auf Fortschritt und die Hilfe für die Bedrängten dieser Erde.

Volkswirtschaftliches Wissen sollte dennoch zur Ausstattung von Sozialdemokraten gehören, aber ihre Fürsorge muss zweifellos den Werktätigen, Selbständigen und wirtschaftlich Schwachen gehören. Dieser Aspekt kam in der Hartz-IV-Gesetzgebung deutlich zu kurz. Was nur zum Teil der SPD anzulasten ist, denn die Union- und FDP-regierten Länder haben eine Verwässerung der ursprünglichen Idee erzwungen.

So entstand ein falscher Eindruck davon, was in der Partei trotz allem steckt. Ohne SPD hätte es - die beiden Autoren in "Selbstzerstörung" erwähnen es - keinen Mindestlohn, keine Rente mit 63 und keine Revision des Hartz-IV-Systems gegeben. Dass sich die SPD zu wenig um Arbeiter und Sozialschwache gekümmert hätte, ist eine Legende - in die Welt gesetzt von Parteimitgliedern, vervielfacht von Journalisten. Die SPD muss schreiend werben für ihre Ziele rund um einen neuen Sozialstaat, nicht verschlafen und maulfaul daherkommen. Es darf nicht verboten sein, Kompromisse als das zu benennen, was sie sind: eine Annäherung an das Ziel.

Dringender als ein tolles Wahlprogramm wäre eine neue Wahrnehmung der Wählerschaft. Als Volkspartei muss die SPD wieder ein Gespür bekommen, was moderne Menschen unter veränderten wirtschaftlichen Bedingungen umtreibt. Sie muss sich kümmern um ein wachsendes Digitalproletariat: unterbezahlte Programmierer und andere Abhängige der Digitalgesellschaft in prekärer Beschäftigung. Die alten Milieus lösen sich auf, werden ersetzt durch volatile Gesellschaftsstrukturen. Wahrscheinlich wird das erst eine neue Generation von SPD-Funktionären verstehen. Es kann aber sein, dass sie auch den digitalen Wandel verschläft, wie davor die Umweltbewegung. Die Grünen sind Fleisch vom Fleische der SPD.

Wenn die SPD einen Fehler in der Flüchtlingspolitik gemacht hat, dann diesen: dass sie Kritikern nicht offensiv begegnet ist. Wer sich wegduckt, hat schon verloren. Die SPD hätte den Wählern erklären sollen, warum Einwanderung unsere Zukunft ist und was konkret zu tun ist, diese sozial verträglich zu machen. Sie kann das noch nachholen.

Andreas Kalckhoff, Stuttgart

Genderstern gegen Mindestlohn Der Kampf um soziale Gerechtigkeit hat für die Sozialdemokratie immer bedeutet, dass alle Menschen am erarbeiteten Wohlstand teilhaben und gleichzeitig ein diskriminierungsfreies Leben führen können, von den Arbeiterlesevereinen über die Einführung des Frauenwahlrechts bis zur Ehe für alle. Die SPD hat das nicht vergessen.

Wer heute versucht, Gendersternchen gegen Mindestlohn auszuspielen, ist sich dessen entweder nicht bewusst oder will der Partei nichts Gutes. Bei der libertär-konservativen Bertelsmann-Stiftung, die meiner Beobachtung nach seit Jahren gegen staatlich organisierte Vorsorge schreibt, eine Grundrente ablehnt und vor der Pandemie Krankenhäuser dichtmachen wollte, vermute ich Lezteres.

Der SPD sollte sich nicht in ein Entweder-oder von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik drängen lassen, sondern ein Sowohl-als-auch suchen, das die Teilhabe aller - finanziell und gesellschaftlich - ermöglicht. Ein erfülltes Leben gelingt nur dann, wenn genug Essen auf dem Tisch steht und andere den eigenen Lebensentwurf akzeptieren. Das ist das wahre Aufstiegsversprechen.

Raoul Koether, München

Alt und neu im Wahlprogramm

Das ist bereits eine neue SPD, aber nicht mehr die SPD der im Artikel "Auf, auf zum Kampf" erwähnten Kanalarbeiter, die meinten, die SPD solle dort sein, "wo es qualmt und stinkt" (Sigmar Gabriel). Deren Werte als die der "alten" SPD finden sich im Wahlprogramm wie folgt wieder: Freiheit wird als Einzelbegriff elfmal erwähnt und taucht dazu als Bindestrichfreiheit unter anderem als Barriere-(4x), Religions- (2x), Gebühren-, Informations-, Steuer- und Pressefreiheit auf.

Gleichheit/Soziale Gerechtigkeit wird nur einmal, Ungleichheit viermal und Chancengerechtigkeit dreimal erwähnt, Solidarität erscheint immerhin 16 Mal, darunter zweimal als Solidaritätszuschlag. Da ist nur noch wenig von der alten SPD übrig, aber einiges Neues dazugekommen.

Gero Neugebauer, Berlin

© SZ vom 09.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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