Afghanistan:Es hätte andere Lösungen gegeben

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Die dramatische Situation nach dem Abzug deutscher Truppen beschämt viele Leser. Welche Fehler hat der Westen im Afghanistan-Einsatz gemacht? Wieso konnten die Taliban so rasch den Sieg erringen?

Zu "Das Land verlassen oder sterben" im Ressort Politik vom 9. August, zu "Unwürdiges Ende" vom 16. August und zu "Deutsches Scheitern" vom 17. August, beide im Meinungsressort:

Wegen Unwissen gescheitert

Zwanzig Jahre waren die Truppen der USA, von Deutschland und anderen Verbündeten in Afghanistan, um die Taliban zu besiegen und das Land zu befrieden. Jetzt mehren sich Stimmen, die den aktuellen Abzug der Truppen für verfrüht halten. Denn Chaos und Gewalt sind zurückgekehrt. Man fragt sich allerdings, warum es in dieser relativ langen Zeit nicht gelungen ist, die gesteckten Ziele wenigstens einigermaßen zu erreichen? Und sollte ein Staat nach 20 Jahren Hilfe und Unterstützung durch ausländische Kräfte nicht in der Lage sein, selbst die Verantwortung für sein Land zu übernehmen?

Ein wesentlicher Grund für das Scheitern des Einsatzes - übrigens auch das von vielen Entwicklungsprojekten im globalen Süden - ist mangelndes Wissen über das Land. Es besteht der Irrglaube, mittels militärischer Unterstützung und Hilfe im Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur lassen sich fest verankerte kulturelle Traditionen wie etwa die Bedeutung der Stämme und die Macht ihrer Führer, jahrhundertealte Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien und Stämmen, patriarchale Strukturen und religiöse Besonderheiten oder das enorme Stadt-Land-Gefälle marginalisieren. Der Versuch, Afghanistan ein westlich-demokratisches Staatsmodell überzustülpen, ist gescheitert, auch wenn eine (gebildete) Minderheit eine Gesellschaft nach westlichem Vorbild begrüßt. Es muss aber eine Mehrheit der Bevölkerung für Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung und Recht auf Bildung kämpfen und sich dafür einsetzen. Das bleibt immer noch Sache des afghanischen Volkes.

Gabriele Lauterbach-Otto, Überlingen

Helfen ist Menschenpflicht

Für die deutsche Regierung und deren Vorgehen habe ich nur eine Bewertung: schäbig. Es ist unwürdig, wie sich die deutsche Regierung verhält.

So kann man den Ruf Deutschlands ramponieren. Wenn die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg auch so gedacht oder gehandelt hätten, wo wären wir jetzt?

Schon als kleiner Bub (ich bin Jahrgang 1950) haben mich die Erzählungen von den Care-Paketen mächtig beeindruckt. Damals haben irgendwelche Amerikaner an ihnen völlig unbekannte Bedürftige im vormaligen Feindesland gespendet - großartig.

Ich sehe das als Menschenpflicht von uns allen an, die wir hier im Wohlstand ein sicheres Leben führen können, und möchte einen kleinen Teil davon "zurückgeben" an die, die es brauchen, und habe deshalb gespendet.

Heino A. Wittmer, München

Man muss sich schämen

Man musste kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass die Taliban Afghanistan nach dem Rückzug ausländischer Truppen zurückerobern. Um das Land wirklich von den Taliban zu befreien, hätte es des konsequenten Einsatzes ganzer Armeen und modernster Waffensystemen bedurft. Dass jetzt allerdings den afghanischen Helfern der Bundeswehr Hilfe verweigert wird, ist der Gipfel von Gewissenlosigkeit. Anstatt sie und ihre Familien umgehend kostenlos nach Deutschland auszufliegen, werden bürokratische Hürden aufgebaut. Visa und Asylgenehmigungen werden, wenn überhaupt, nur nach langwierigem Prozedere erteilt. Schließlich - so allen voran der deutsche Innenminister - bestehe die Gefahr, dass schnelle unbürokratische Hilfe für Helfer auch nicht Bedrohte zur Ausreise nach Deutschland motivieren und eine Einreisewelle auslösen könne. Man muss sich schämen, Deutscher zu sein.

Claus Leher, München

Zu wenig zugehört

Vor vielen Jahren, als die Sowjets noch nicht einmarschiert waren, bereisten wir das wunderschöne Land. Damals gab es noch die einzigartigen Buddhas von Bamiyan, die von den Taliban zerstört wurden.

Schon damals war der Gegensatz der einzelnen Volksgruppen spürbar, die Clans der Paschtunen beherrschten das Land. Dass Deutschland, die USA und andere Staaten nicht nur jetzt, sondern schon immer meinten, eine Demokratie vermitteln zu können, zeigt, wie wenig sie auf die sicher vorhandenen Afghanistan-Kenner gehört haben. Zustände wie im Mittelalter können nicht ad hoc verändert werden, die Bevölkerung - vor allem die jungen wehrfähigen Männer - hätten ganz anders eingebunden werden müssen. Da helfen Entwicklungshelfer und Hilfskräfte zu wenig, auch wenn Frauen bessere Zukunftsaussichten erhielten. Da im Land keine Rohstoffe zu holen sind, lohnt sich für Staaten wie die USA der Einsatz nicht.

Nun wird es kommen wie zuvor: öffentliche Hinrichtungen, Verbannung von Frauen aus der Öffentlichkeit, Schließung von Schulen und Sportstätten, etc. Das Bedauern der Regierenden, auch Deutschlands, ist nicht nur ein moralisches Armutsbekenntnis, sondern eine Schande für unser Land. Afghanistan hätte geholfen werden können. Die Menschen, Flüchtlinge und die im Land Verbliebenen, hätten die westliche Hilfe verdient. Sie haben genug gelitten und werden weiter unter den Taliban leiden. Den Glauben an die praktizierte Demokratie haben die meisten inzwischen sicher verloren.

Brigitte und Bernd Broßmann, Neubiberg

Saigon 2.0

Weder die USA noch ihre allzu willigen Nato-Partner haben offenbar aus der Geschichte gelernt. Aus der Geschichte der Entwicklung von Gesellschaften, aus der Geschichte des Krieges. Durch Soldaten aus dem Ausland wurde weder die Philosophie in das antike Griechenland gebracht noch das Römische Recht ins damalige Europa. Weder die Renaissance noch die Aufklärung haben fremde Truppen in das Europa des zweiten Jahrtausends gebracht.

Gesellschaften, Nationen müssen sich aus sich selbst heraus entwickeln - allenfalls intellektuelle Anstöße und Anregungen können von außen kommen. Spätestens seit der Niederlage der Franzosen in Indochina, spätestens seit die USA eine schmähliche Niederlage in Vietnam erlitten, hätte auch dem Letzten bekannt sein müssen, dass solche Interventionen in fremde Länder sinnlos sind und nur zu Toten und Verletzten, zu Zerstörung und millionenfachem Leid führen - samt Verschwendung von Steuermitteln. Warum werden wir auch im 21. Jahrhundert noch immer von Politikern regiert, die aus dem Tal der Ahnungslosen kommen?

Karl Kozmiensky, Leutnant d. R., Eschwege

Bankrotterklärung des Westens

Zum hastigen Abzug der alliierten Truppen aus Afghanistan sei angemerkt, dass uns Bürgern diese Bigotterie erheblich nervt: Jetzt wird über Afghanistan gar in einem "Brennpunkt" berichtet, jetzt sorgen sich plötzlich alle um dieses Land, jetzt merkt eine Verteidigungsministerin, dass "ihre Soldaten" in Lebensgefahr sind. Ich erinnere mich an eine Aussage von Bischöfin Käßmann, dass nichts gut sei in Afghanistan; man möge doch besser beim Teetrinken mit den Taliban über Wege zum Frieden sprechen. Wie naiv können Menschen sein! Auch die Euphemismen, mit denen manche Pazifisten die jetzt hemmungslos prostituierte Gewalt hinterwäldlerischer Islamisten jahrelang geleugnet haben - das schreit zum Himmel. Gegen die Gewalt hilft wahrlich nichts anderes als Waffengewalt.

Es soll Mitmenschen geben, die auf die freiheits- und demokratiefördernde Macht eines sogenannten Westens vertraut haben; dieser Westen lässt den Osten nunmehr sündenhaft im Stich - wohl auch, weil es in manchen solcher Länder nicht genügend Öl und Geld zu holen gibt, wohl auch, weil unsere Ausbildung und Waffengewalt von den Taliban verhohnepipelt wird, wohl auch, weil mittlerweile unisono das eigene Leid mehr zählt als das fremde Leid. Gott sei es geklagt. Ich nenne das Debakel von Afghanistan eine einzige moralische Bankrotterklärung des Westens, den es als solchen ohnehin nicht mehr gibt.

Friedrich Karl Erich Klann, Hamburg

Peacebuilding als Lösung

Gegen die Vorstellung, dass der 20-jährige US-Krieg in Afghanistan ein unwürdiges Ende genommen habe, ist kaum etwas einzuwenden. Wenn wir jedoch den Anfang nicht kritisch hinterfragen, nämlich die Vorstellung, dass militärische Gewalt notwendig war, um den Terrorismus zu stoppen und zu verhindern, blicken wir nicht weit genug. Präsident Biden hat recht, Streitkräfte abzuziehen, die eine Bevölkerung besetzen, die nicht besetzt werden wollte. Eine Verlängerung der zwei Jahrzehnte langen Besatzung hätte nichts geändert. Positive Prozesse werden durch hartes und dauerhaftes Peacebuilding gefördert. Einen magischen Friedensschalter gibt es jedoch nicht. Hier hat die Biden-Regierung die Chance, den Kurs zu ändern.

Die militärische Option muss vom Tisch. Sicherheit muss entmilitarisiert werden, und die Tür zum Peacebuilding muss weit aufgetreten werden. Alte Gewohnheiten, Gewalt mit Bomben zu bekämpfen, müssen losgelassen werden. Auf höchster Ebene muss sich die Diplomatie durchsetzen. Humanitäre Nothilfe muss bereitgestellt werden, wenn und wo dies erforderlich ist. Friedensstifter vor Ort in Afghanistan fordern die internationalen Partner dazu auf, sich weiterhin engagiert mit einer komplexen Sicherheitslage zu beschäftigen, anstatt Akteure fälschlicherweise als "gut" und "böse" zu bezeichnen, alle Konfliktbeteiligten einzubeziehen und lokal geführte politische und friedenspolitische Prozesse zu unterstützen.

Wir müssen Peacebuilding mit der gleichen Rigorosität und den gleichen Ressourcen unterstützen, die über zwei Jahrzehnte bei militärischen Ansätze verwendet wurden. Geben wir den Peacebuildern - lokal und international - die Chance, ihre Werkzeuge, die benötigten Ressourcen und die Zeit, die der Strukturwandel braucht, anzuwenden. Dafür gibt es keine militärische Lösung, und das sollte in jeder Analyse klargestellt werden.

Dr. Patrick Hiller, Hood River , USA

Skandale lückenlos aufdecken

Ein US-Flugzeug evakuiert 640 Personen, ein deutsches sieben. Tausende sind am Flugfeld, Flieger können nicht starten, weil zu viele Menschen da sind, und uns Bürgern wird erzählt, dass nicht mehr Menschen mitgenommen werden konnten, da zu wenig da waren. Diese Skandale von Kabul bis Ahrweiler müssen schonungslos aufgedeckt werden! Wir erleben Trägheit und Inkompetenz einer unfähigen Staatsführung.

Dr. Helge Scheibe, Bad Krozingen

© SZ vom 18.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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