70 Jahre Verfassungsgericht:Recht finden, nicht recht machen

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Wie mutig oder bewahrend können die Hüter des Grundgesetzes in sein? Die Ansichten dazu sind vielschichtig. Der Politik sollen die Richter den Spiegel vorhalten.

Bedeutende Entscheidungen zum Grundgesetz: Eingang zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. (Foto: Uli Deck/dpa)

Zu " Manchmal werden neue Rechte erfunden", Interview mit Rechtswissenschaftlerin Anna Katharina Mangold vom 7. September, " Der Himmel über Karlsruhe" vom 2. September sowie zu " Grundgesetzlich" vom 28./29. August:

Der Politik den Spiegel vorhalten

Brauchen wir ein "mutiges" Verfassungsgericht? Einerseits kann man Heribert Prantl verstehen, wenn er sich wünscht, jemand möge der Politik die Beine lang ziehen. Damit sie weniger hemdsärmelig herumbastele am großen Gebäude des Rechts. Andererseits ist das Recht, auch das Verfassungsrecht, ja das Werk von Politikern und als solches keineswegs frei von politischem Zeitgeist. Dazu passt dann wieder Herrn Prantls dezente Richterschelte, wenn ihm die vermutete politische Richtung der Urteile nicht schmeckt. Ja, wir können froh und glücklich sein über unser Verfassungsgericht. Aber es ist nur eines der Verfassungsorgane. Seine Aufgabe ist nicht, politische durch juristische Methoden zu ersetzen, sondern der Politik einen kritischen Spiegel vorzuhalten, wann immer sie den eigenen Grundsätzen untreu zu werden droht.

Axel Lehmann, München

Vom Pathos der Rechtsprechung

Merkwürdig, dass eine Juristin wie Frau Mangold von "Recht erfinden" redet, wenn es um Grundgesetze geht. Möglicherweise ist das moderne Juristensprache. Als Historiker würde ich jedoch analog zur Rechtsfindung von "Gesetzfindung" sprechen, jedenfalls, was Grundgesetze angeht. Natürlich ist klar, dass alle Gesetze von Menschenhand geschrieben und damit veränderbar sind, aber bei Menschenrechten und Verfassungen schwingt immer der Gedanke von Unveränderlichkeit mit.

Menschen- und Grundrechte umgibt die Aura des Sakralen. Im Kosmos juristischer Wahrheiten sind sie immer schon da. Stellt man ein Defizit fest, begeben sich Weise auf die Suche, bis sie ein Recht finden, das bisher verborgen war. In diesem Sinne können neue Grundrechte nur gefunden, nicht erfunden werden - weil dem Erfinden der Geruch menschlicher Verfügbarkeit und Willkür anhaftet. Auch die Demokratie braucht ein Stück weit das Pathos des Heiligen, um seinen Institutionen Respekt zu verschaffen.

Andreas Kalckhoff, Stuttgart

EZB-Urteil erst später bewertbar

"In Europa-Fragen hat das Gericht sich komplett verrannt" - so lautet es gleich im zweiten Absatz der Bewertung Heribert Prantls vom Bundesverfassungsgericht ergangener Urteile zu den unterschiedlichsten Urteils-Sachverhalten ("Grundgesetzlich"). In dieser Europa-Frage geht es um die Zuständigkeiten für unser Geld, und da sind viele Deutsche der älteren Generation besonders empfindlich.

Die großen Geldentwertungen von 1948 und 1923, jeweils nach verlorenen Kriegen, sind in Deutschland unvergessen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Stephan Harbarth, hat sich zur Europa-Frage wie folgt geäußert: "Das Bundesverfassungsgericht hat europafreundlich schon in der Vergangenheit festgestellt, dass eine Kompetenzüberschreitung der Europäischen Union nur dann von ihm gerügt werden kann, wenn sie gleichsam auf der Hand liegt", (FAZ vom 14. November 2020, Nr. 266, Seite 3). Anfang Mai 2020 beurteilte das Bundesverfassungsgericht die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) als teilweise verfassungswidrig und forderte, dass die EZB binnen drei Monaten nachvollziehbare Begründungen für das PSPP-Programm präsentiert. Laut Verfassungsrichter Peter Huber "hat die EZB die Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit zu dokumentieren, dass die EZB innerhalb ihres Mandats agiert hat (und keine verkappte Wirtschaftspolitik betreibt)". Es geht um das Billionen-Volumen der Staatsanleihekäufe durch die EZB und damit um die im Vertrag von Maastricht verbotene Staatsfinanzierung mit großem Inflationspotenzial. In der Zeit der Deutsche-Mark-Währung bis zum Jahre 2000 gab es das volle Vertrauen in die Deutsche Bundesbank.

Die Euro-Krise von 2013 hat gezeigt, dass sich die EZB dieses Vertrauenskapital bis dahin noch nicht erarbeitet hatte. Bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise mussten die starken Staaten der Europäischen Union gemeinsam mit den hoch verschuldeten Mitgliedstaaten erstmals ein schuldenfinanziertes gemeinsames Hilfsprogramm für die Staatengemeinschaft der Europäischen Union beschließen. Dessen Erfolg für die gemeinsame Währung und erfolgreiche Krisenbewältigung muss sich noch beweisen. Herr Prantl sollte sich in Europa-Fragen besser in Geduld üben.

Rüdiger Vehof,Landesbankdirektor i.R., Erfurt

Zum Schutz der Ungeborenen

Das Bundesverfassungsgericht ist nicht sakrosankt. Es muss sich auch nach 70-jährigem Bestehen und angesichts vieler Verdienste Kritik gefallen lassen, vor allem dort, wo es, wie nicht selten, ohne zureichende verfassungsmäßige Absicherung in legislative und exekutive Zonen vorstößt. Die von Frau Professor Mangold geäußerte pauschale Kritik am Gericht ("Manchmal werden neue Rechte erfunden") geht jedoch, wie ich meine, an der Sache vorbei.

Das Bundesverfassungsgericht, sagt Mangold, "hat die Schutzpflicht zugunsten des Embryos erfunden". Das ist eine widersinnige Behauptung. Der Schutz des ungeborenen Kindes in jeder seiner Lebensphasen ist eine Errungenschaft der Neuzeit im ganzen. Rechtspolitisch hat zuerst die Aufklärung die Forderung nach lückenlosem Grundrechtsschutz für das Kind erhoben, indem sie die "Allgemeinen Rechte der Menschheit" auch für die ungeborenen Kinder in Anspruch nahm. So enthält bereits das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 im Paragraf 10 I, 1 den Satz: "Die Allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis." Diesem Postulat folgten das Baierische Strafgesetzbuch von 1813 und das Preußische Strafgestzbuch von 1851 - und dann von 1871 an der Paragraf 218 des Reichsstrafgesetzbuches. Seit dieser Zeit ist die Tötung der Leibesfrucht einer Schwangeren im deutschen Rechtskreis generell eine strafbare Handlung.

Zweitens meint Frau Mangold, das Verfassungsgericht hätte "die Frage, ob ein Embryo bereits ein Mensch ist", zuerst begründen müssen. Die Befragte fällt offensichtlich in eine geradezu mittelalterliche embryologische Erkenntnisschwäche zurück, in die Vorstellung einer Phase der "unbelebten Existenz", der "sukzessiven Beseelung" - dies in einer Zeit, in der jedes Schulkind lernt, was DNS ist, und die pränatale Diagnostik uns durch Ultraschall Einblick in das frühe Leben gibt. Deshalb: Das Verfassungsgericht musste keineswegs erst neu begründen, was in der Neuzeit, seit William Harvey, längst biologisch erwiesen war.

Drittens wird Ernst-Wolfgang Böckenförde beziehungsweise dem Verfassungsgericht unterstellt, es hätte "eine Liberalisierung zurückgedreht, die nach der Wiedervereinigung möglich gewesen wäre". In Wahrheit hat Böckenförde, wie ich aus Gesprächen mit ihm weiß, das Dilemma, vor dem das Bundesverfassungsgericht stand, stark empfunden. Er hielt jede gesetzliche Regelung des Abtreibungsproblems für "ein Stück Notordnung". Notordnung deshalb, weil es in einem modernen Verfassungsstaat darum geht, zwei an sich unvereinbare Grundsätze in einem Kompromiss zu vereinen: den Schutz für das Leben der Ungeborenen, die ein Recht auf Leben haben, und die Selbstbestimmung der Frauen, denen man zwar Beistand, Ermutigung und praktische Hilfen bieten kann, aber deren Entscheidungsrecht dem freiheitlichen Menschenbild unserer Verfassung gemäß nicht aufgehoben werden kann.

Prof. Dr. Hans Maier, ehem. bayerischer Kultusminister, München

© SZ vom 24.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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