30 Jahre Mauerfall:Es geht um Wertschätzung

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Die mangelnde Anerkennung ihrer Lebensleistung beschreibt ein Leser als Hauptgrund für die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher heute. Und: Nicht alle Sicherheitskräfte waren Volkspolizisten, klärt ein Schreiber auf.

Zu " Das Wunder" vom 19./20. Oktober und " Merkels Systemkritik", 4. Oktober:

Bitte nicht so oberflächlich berichten wie in "Das Wunder", auch nach 30 Jahren oder gerade nach drei Jahrzehnten nicht: In der DDR gab es nicht nur Volkspolizisten. Wir sehen in der betreffenden SZ-Ausgabe ausnahmslos Grenzsoldaten. Volkspolizisten hatten offensichtlich hier gar keine Befugnisse. Angehörige der Grenztruppen hatten vorher den Schießbefehl auszuführen. Gerade darin liegt die Tragik auch in diesen Bildern.

Dr. Detlef Fuchs, Neuruppin

Rückblickend ist festzustellen, dass die ostdeutschen Landsleute zwei fundamentale Demütigungen hinnehmen mussten. Einmal 40 Jahre in Unfreiheit unter der Knute einer Nomenklatura gelitten zu haben, die den Sozialismus reklamierte, für sich aber die staatskapitalistische Variante des West-Kapitalismus wählte. Die zweite Demütigung erfuhren sie mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.

Für viele Ostdeutsche wirkte dies zunächst wie eine kalte Dusche knallharter Gesetzmäßigkeiten einer freien Marktwirtschaft, in Form von Arbeitslosigkeit und einer Geringschätzung ihrer bisherigen, durch den realexistierenden Sozialismus geprägten Biografien. Es begann schon damit, dass unsere "lieben Brüder und Schwestern" über Jahrzehnte vom Westen als politische Propagandamasse herhalten mussten, um sie urplötzlich, nach der "Novemberrevolution '89, nur noch als lästige Kostenfaktoren wahrzunehmen. Soli und Aufbauhilfen Ost bestimmten fortan die öffentlichen Diskussion. Ihre persönlichen Lebensleistungen und Lebensentwürfe wurden mit keiner Silbe gewürdigt.

Wie selbstverständlich erwartete der Westen, dass sich die Proselyten aus dem Osten den mitunter ruppigen Regeln der freien Weltmärkte gefälligst bedingungslos, ohne Widerworte, in Dankbarkeit anpassen. Dass dieser quasi über Nacht erfolgte Regimewechsel die Menschen in ihrem Denken und Gefühlsleben tief erschütterte, sie mit Identitäts- und Selbstwertverlusten zu kämpfen hatten, ihre bisherigen Lebensbiografien "geschwärzt" wurden, hatte hier niemand auf der Rechnung.

Gewohnte auf Solidarität, Verlässlichkeit und Fürsorge durch den Staat beruhende Erfahrungen, galt es hinter sich zu lassen und den Schalter auf "freie Marktwirtschaft" umzulegen. Bei allem, was Ostbürgern an Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten per Wiedervereinigung eröffnet wurde, bleibt der Makel, auch 30 Jahre nach der Einheit den "Brüdern und Schwestern" gleiche Löhne und Renten zu verweigern und es an Wertschätzung für Lebensleistungen unter den erschwerten Bedingungen einer Diktatur vermissen zu lassen.

Wolfgang Gerhards, Berlin

© SZ vom 31.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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