Die Biochemikerin Ulrike Beisiegel leitet das Institut für Molekulare Zellbiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG ist sie zur Ombudsfrau berufen worden. In dieser Funktion ist sie zuständig für Fragen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens und eine unabhängige Vermittlerin in strittigen Angelegenheiten.
SZ: Wie kann es sein, dass jemand 14Jahre lang Plagiate produziert und weder Redakteure von Fachzeitschriften noch die Kollegenschaft etwas bemerken?
Beisiegel: Es ist für Gutachter auch bei einem angesehenen Fachjournal schwierig, Plagiate zu erkennen. Um zu entdecken, dass Textteile abgeschrieben sind, müsste man die Originalquellen im Kopf haben. Das geht aber nicht. Mit dem Internet ist es noch verführerischer geworden, ganze Textpassagen zu kopieren. Neuerdings gibt es immerhin Computerprogramme, die ein Manuskript mit existierenden Veröffentlichungen vergleichen können.
SZ: Eine Software, die nach übereinstimmenden Textpassagen sucht?
Beisiegel: Das Programm meldet beispielsweise Übereinstimmungen von mehr als 20 Wörtern. Diese Software ist eigens für Redaktionen von Fachjournalen gemacht, und entsprechend teuer. Plagiate mit Quellen von vor der Internet-Ära sind aber schwer zu entdecken. Wie im aktuellen Fall fliegt manches eben erst auf, wenn ein Student Material für irgendeine Seminararbeit sucht, und auf zwei übereinstimmende Texte trifft.
SZ: Die Aufklärung ist also immer noch von Zufällen abhängig - und von Menschen, die den Finger heben?
Beisiegel: Im Moment ja, aber die Technik wird immer besser.
SZ: Was macht einen Forscher zum Fälscher?
Beisiegel: Im Wissenschaftssystem ist der Druck extrem hoch, immer mehr zu publizieren - und das meistens in fremden Sprachen. Dadurch wird das Kopieren zusätzlich stimuliert. Wenn man von Doktoranden erwartet, dass sie mindestens zwei Publikationen schaffen, und man nur mit einer Mindestzahl von Veröffentlichungen habilitieren kann, dann entsteht extremer Druck. Es hat sich im deutschen Wissenschaftssystem noch immer nicht durchgesetzt, dass die Qualität zählt und weniger die Quantität.
SZ: Die reine Anzahl von Publikationen ist wichtiger als das, was drinsteht?
Beisiegel: Zumindest spielt das eine zentrale Rolle. Es ist für jüngere Wissenschaftler schwer, sich dafür zu rechtfertigen, wenn man zwei Jahre intensiv an einer Sache geforscht hat und in dieser Zeit nichts publizieren konnte. Da muss man schon auf verständige Gutachter hoffen. Es wird viel auf die Menge geschaut: Was, der hat nur eine Publikation im Jahr? Wer gute Wissenschaft machen und gute Publikationen machen will, kann aber kaum mehr schaffen.
SZ: Inwieweit ist bei der Aufklärung von Plagiaten die Verschwiegenheit unter Kollegen ein Hindernis?
Beisiegel: Die Erkenntnis, dass man gegen Fälschungen etwas tun sollte, ist bei jungen Leuten sehr hoch. Aber dann hinzugehen zum Ombudsmann, da gibt es große Hemmungen oder Ängste. Die sind insofern zu verstehen, als ein Hinweisgeber, auch Whistleblower genannt, in der Kollegenschaft als 'Petze' gilt. Das möchte niemand riskieren. Wir merken, dass die Leute, die uns anrufen, massiv von Angst geprägt sind. Es ist heikel: Auch wer berechtigterweise Hinweise auf wissenschaftliches Fehlverhalten gibt, wird danach im System als Nestbeschmutzer gemieden. Das ist sehr, sehr schade. Ich schätze, wir werden noch Jahre brauchen, bis Universitäten und Forschungseinrichtungen so weit sind, dass sie ihre eigentlich wichtige Funktion der Selbstkontrolle ernst nehmen.
SZ: Wie viele Hinweise bekommen Sie pro Jahr?
Beisiegel: Etwa 60 bis 70 Fälle.
SZ: Wie viele davon haben ernste Konsequenzen?
Beisiegel: 80 bis 90 Prozent der Hinweise verfolgen wir ernsthaft. An den meisten Hinweisen ist etwas dran. Es sind wenige, die nur einem Kollegen oder Vorgesetzten schaden wollen. Hinter vielen Fällen steckt aber auch ein Kommunikationsproblem. Es gibt zum Beispiel Streit um die Autorenschaft einer Publikation, und wir merken: Die Kontrahenten haben nicht ein einziges Mal miteinander gesprochen.
SZ: Auch den nun aufgeflogenen Hans-Werner Gottinger beschreiben Kollegen als wenig kommunikativ.
Beisiegel: Verhaltensweisen haben oft einen psychologischen Hintergrund. Wichtig ist, frühzeitig Muster zu erkennen. Schwierige Einzelgänger bekommen oft zu Unrecht das Image, genial zu sein. Es ist aber besser, mit einer überschaubaren Zahl von Kollegen im Team zu arbeiten. Das macht es dem Einzelnen schwerer zu fälschen. Wer im Kämmerchen sitzt, wird leichter verführt, in seiner Suppe immer weiter zu phantasieren.