Von Chemie bis Informatik:Hand und Kopf

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Naturwissenschaftler sind auf dem Arbeitsmarkt begehrt. Noch bessere Aussichten auf einen guten Job haben allerdings Fachkräfte. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Die Wirtschaft braucht Naturwissenschaftler. Akademiker haben gute Berufsaussichten. Sehr gute Aussichten aber haben Facharbeiter mit einer entsprechenden Ausbildung.

Von Christine Demmer

Roland Gersch wollte schon in der Grundschule Astrophysiker werden. "So erzählt es jedenfalls meine Mutter", sagt der 37-Jährige. Gersch hat tatsächlich Physik studiert. Die Entscheidung fiel allerdings nur ganz knapp gegen Jura aus. "Ich habe mich schon immer zu schwierigen Problemen hingezogen gefühlt", sagt Gersch, "und ich hatte den Eindruck, in der Physik seien sie noch etwas schwieriger." Nach seiner Promotion bekam er auf jede Bewerbung ein Gesprächs- und nach jedem zweiten Gespräch ein Vertragsangebot. Sechs Jahre Strategieentwicklung bei einem Elektrokonzern in München, dann gründete Gersch sein eigenes Unternehmen. Damit erforscht er Geschäftsmodelle in der intelligenten Batteriesteuerung - genau das, was der Automobilstandort Deutschland braucht.

Seit Jahren bekniet die exportorientierte Wirtschaft die Abiturienten: Bitte, bitte, hört doch auf, Kulturmanagement oder irgendwas mit Medien zu studieren! Wir brauchen Mathematiker und Ingenieure im Maschinen- und Fahrzeugbau! In der Informatik! In den Naturwissenschaften! Überhaupt: in der Technik! Ein sogenanntes Mint-Fach sollte es sein - wobei sich der Begriff Mint schlicht und einfach aus den Anfangsbuchstaben der Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik zusammensetzt. Die Absolventen können mit Bedingungen rechnen, die auf dem Arbeitsmarkt eigentlich schon als überholt galten: mit einem sicheren Arbeitsplatz samt überdurchschnittlicher Bezahlung, gesellschaftlichem Ansehen, guten Aufstiegsperspektiven. "Auf eine Anzeige für Marketing und Betriebswirtschaftliches bekommen wir 100 Bewerbungen und mehr", sagt Renate Schuh-Eder, Personalberaterin in Baldham bei München. "Bei vielen Mint-Themen sind es oft weniger als zehn. Das sagt eigentlich alles, oder?" Bei den technisch-naturwissenschaftlichen Berufen könne man ganz klar von einem Arbeitnehmermarkt sprechen. "Mitarbeiter mit einem guten Studienabschluss und erfolgreichen ersten Jahren in der Praxis sind enorm nachgefragt."

Die Botschaft ist angekommen. Die Zahl derer, die sich für ein Ingenieur- oder Informatikstudium, für Chemie, Mathematik oder Physik entscheiden, nimmt stetig zu (siehe Kasten). Doch die Einfälle schlauer Tüftler erzeugen noch keine marktgängigen Produkte. Dazu braucht es einen Unterbau aus Facharbeitern, Laboranten und anderen nichtakademischen Mitarbeitern. In den kommenden Jahren gehen mehr Fachkräfte in Rente, als neue hinzukommen - auch deshalb, weil vergleichsweise mehr junge Leute ein Studium als eine betriebliche Ausbildung beginnen.

Manfred Ritz vom Verband der Chemischen Industrie (VCI) in Frankfurt freut sich generell über steigende Studentenzahlen und verspricht den Absolventen gute Berufschancen, insbesondere in der Elektrochemie und Biotechnologie. "Was wir aber vermehrt brauchen", sagt Ritz, "sind Mint-Fachkräfte im nichtakademischen Bereich, zum Beispiel Chemielaboranten und Chemikanten." Thilo Weber vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) in Frankfurt sieht das ähnlich. "Natürlich haben wir Bedarf im akademischen Bereich", sagt der Referent für Bildungspolitik. "Wer ein Ingenieurstudium solide zu Ende bringt und regional ein bisschen flexibel ist, der sollte gute Chancen haben." Unter den Nägeln brenne den Arbeitgebern aber der Mangel an Facharbeitern. Ritz sagt: "Wir brauchen allgemein mehr technische Fachkräfte. Konkret können wir zwar nur für den Maschinenbau sprechen. Aber wir wissen, dass es in anderen Wirtschaftszweigen genauso ist."

Kaum eine Branche ist so stark von Innovationen geprägt wie die der Informationsindustrie. Sowohl in den IT-Firmen selbst als auch in Anwenderbetrieben ist qualifizierter Nachwuchs gefragt. Der Branchenverband Bitkom spricht seit Jahren von 40 000 offenen Stellen. 2015 beschäftigte die Branche vier Prozent mehr Mitarbeiter als im Vorjahr. Gleich um neun Prozent erhöhte sich die Zahl der angestellten Akademiker. Trotzdem stellten die Unternehmen gerne weiter ein, versichert Susanne Lindner von der Bundesagentur für Arbeit. "Insbesondere die Nachfrage nach nichtakademischen Fachkräften ist gestiegen."

Ausbildung statt Studium: "Ich bin sicher, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben."

Gesucht sind vor allem Fachinformatiker. Wie Kai Friedrichs, der in der Anwendungsentwicklung einer Versicherung in Wiesbaden arbeitet. "Der Job macht mir Spaß, die Bezahlung ist gut, die Kollegen sind nett, und falls ich eines Tages wechseln wollte - was mir aktuell nicht einfällt -, dann hätte ich sicher schnell eine neue Stelle", sagt der 28-Jährige. Nach dem Abitur hatte er überlegt, Informatik zu studieren, sich aber doch für eine Berufsausbildung entschieden. "Finanziell bin ich schon ein paar Jahre da, wo Hochschulabsolventen einsteigen", sagt Friedrichs. Um die Zukunft macht er sich keine Sorgen. "Ohne Informatiker kommt heute kein Unternehmen mehr über die Runden", sagt er. "Ich bin sicher, dass ich auf das richtige Pferd gesetzt habe."

Auch berufserfahrene Ingenieure haben gute Chancen. Im Aufschwung braucht man mehr, in der Krise weniger, aber ganz ohne Ingenieure geht es nicht. Vermessungsingenieur Jan Niemann hat das Berufsleben nicht enttäuscht. Der 34-Jährige aus Bonn ist bei einem regionalen Versorgungsunternehmen tätig. "Unsere Projekte starten meist mit den Worten: Wir brauchen dies und jenes. Wie bekommen wir das umgesetzt?" So werde man ständig vor neue Herausforderungen gestellt. Wie die gesamte Mint-Branche auch: Ist ein Problem gelöst, steht das nächste schon vor der Tür.

© SZ vom 28.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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