Seniorenstudium:Per Videokonferenz ins Lieblingsseminar

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Nicht allein die körperliche, auch die geistige Fitness ist vielen lebenserfahrenen Menschen wichtig. Letztere trainieren sie im Seniorenstudium. Zu den beliebtesten Fächern gehört dabei Geschichte. (Foto: Joseffson/imago images)

Das Interesse älterer Menschen an Hochschul-Programmen wächst. Die Anbieter haben dafür gesorgt, dass sie trotz Corona weiterstudieren können.

Von Rebekka Gottl

Siegfried Patzig studiert im 32. Semester. Er hat bereits Lehrveranstaltungen in Politikwissenschaften und Amerikanistik besucht und Seminare zu evangelischer Theologie belegt. Geschwänzt hat er bisher noch nie. Und selbst in diesem Wintersemester nimmt er an universitären Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen teil - per Videokonferenz. "Das ist keine Phase des Stillstands", sagt Patzig. Vielmehr nutze er die Chance, neue Arten der Kommunikation und der digitalen Medien aktiv kennenzulernen, mit denen er sich zuvor nicht beschäftigt habe. Patzig ist 79 Jahre alt, hat vier Kinder, sieben Enkel und ist Seniorenstudent an der Universität Leipzig.

Die lokalen Konzepte und Kosten fürs Seniorenstudium können stark variieren

Der Rentner ist kein Einzelfall am Campus und in den Online-Seminaren. Denn die Anzahl der Senioren unter den circa 37 200 Gasthörern an deutschen Universitäten ist beachtlich. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts war die Hälfte der Gasthörer im Wintersemester 2019/2020 älter als 60 Jahre. 1900 Gaststudierende waren sogar 80 Jahre und älter, das sind zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Frauen sind dabei in etwa so häufig vertreten wie Männer. Zu den über 60-Jährigen, die regelmäßig als Gasthörer an den Seminaren und Vorlesungen teilnehmen, kommen noch jene Älteren hinzu, die regulär in Vollzeit studieren, promovieren oder so wie Patzig ein Studium für Senioren absolvieren. Entgegen den Erwartungen hält deren Interesse an universitären - derzeit überwiegend virtuell stattfindenden - Lehrangeboten und am fachlichem Austausch trotz Corona auch in diesem Semester an.

Etwa 45 staatliche Hochschulen haben neben dem regulären Gasthörerstudium ein eigenes Angebot für Studierende der sogenannten Generation 50 plus geschaffen, sagt Thomas Bertram. Er ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Weiterbildung für Ältere (BAG Wiwa) in der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium. "Studieren im Alter", "Wissenschaftliches Weiterbildungsprogramm für Erwachsene im mittleren und höheren Lebensalter", "Universität des Dritten Lebensalters": Ein genormtes Seniorenstudium gibt es nicht, stattdessen existieren viele Namen für ähnliche Konzepte. Allen Hochschulen geht es darum, Älteren in der nachberuflichen Phase ein breit gefächertes Bildungsangebot anzubieten. Ohne Benotung, Prüfungsstress und Leistungsdruck.

Als Patzigs Berufsleben vor 15 Jahren endete, wollte der Mathematik- und Geografielehrer keinesfalls in den Ruhemodus verfallen, "sondern die geistige Fitness am Leben erhalten", wie er sagt. Jedes Semester wählt er daher mehrere Kurse aus mehr als 200 Lehrveranstaltungen aus. Aufgrund der Corona-Pandemie sei das Angebot an Lehrveranstaltungen aktuell zwar eingeschränkt, "vergessen wurden wir Seniorenstudenten aber nicht", sagt Patzig. Denn während im Sommer noch viele Veranstaltungen abgesagt werden mussten, hat die Universität Leipzig wie die meisten Hochschulen in Deutschland inzwischen etliche Präsenzseminare als E-Learning-Veranstaltungen gestaltet. An Sprachkursen, Ringvorlesungen und Angeboten des Seniorenkollegs können die Älteren so per Videokonferenz vom heimischen Küchentisch aus teilnehmen. Neu geschaffene Medienkurse bieten parallel dazu die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Programmen und Lehrformaten vertraut zu machen.

Meist belegt Patzig Kurse zu Themen, die ihm wenig vertraut sind, in denen er überrascht werden kann. Religionswissenschaften zum Beispiel, und immer wieder auch Geschichte. Mit mehr als 4000 Teilnehmenden im vergangenen Wintersemester zählt das Fach nach Angaben des Statistischen Bundesamts zu den beliebtesten unter den Gasthörern, gefolgt von Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. "Nach Jahren des Arbeitens widmen sich viele solchen Fragen, die greifbarer sind und die sie aufs eigene Leben anwenden können", sagt Bernd Schmitt vom Akademischen Verein der Senioren in Deutschland (AVDS). Vereinzelt sitzen pensionierte Hörer zwar in Vorlesungen zu Atomphysik, Maschinenbau oder Strömungsmechanik, doch insgesamt seien ältere Studierende in technischen Studiengängen deutlich seltener vertreten.

55 Jahre ist es her, dass Siegfried Patzig sein Lehramtsstudium beendet hat. Klar, dass sich seitdem vieles an der Uni geändert hat. Genauso wie seine jetzigen Kommilitonen musste sich Patzig mit der Online-Lernplattform Moodle sowie dem Intranet der Universität anfreunden. Um Gleichaltrige beim Start ins Studium zu unterstützen, bieten er und zwei weitere Senioren bereits seit zehn Jahren eine Einführung in Moodle an. Vor Kurzem hat er sich auch mit dem Videokonferenzsystem Zoom vertraut gemacht.

Für seine Leistungen kann man auch Zertifikate bekommen. Das hat besondere Vorteile

An Altersunterschieden stört sich Patzig nicht. "Die meisten Lehrenden sind aus der Generation meiner Kinder", sagt er, "aber was die draufhaben!" Er schätzt auch den Austausch mit jüngeren Studierenden. Der gebe ihm "großes Vertrauen in die jungen Leute". Besonders das Hinterfragen der Seminarinhalte und das Nichteinverstandensein der Jüngeren mit der Meinung der Lehrenden beeindrucke ihn sehr.

In Seminaren mit zehn bis 15 Studierenden ist Patzig oft der einzige Ältere. Bei der Vergabe der Referatsthemen steht er daher immer wieder vor derselben Frage: "Drücke ich mich oder mache ich mit?" Doch die anfängliche Aufregung, wenn es darum gehe, sich aktiv zu beteiligen, weiche recht schnell einem gewissen Stolz. Denn sobald die Kommilitonen am Ende seines Referats mit den Fingerknöcheln anerkennend auf die Tische klopfen, merkt der Seniorenstudent, dass er geistig noch mit den Jüngeren mithalten kann.

"Natürlich gibt es auch abgespeckte Einführungsveranstaltungen für Studierende über 60", sagt Bernd Schmitt. Wenn es um die Wahl der Fächer und Veranstaltungen geht, möchten die meisten indes keinen "Seniorenteller". Daher können sich Menschen jenseits der 60, die sich zwischen dem klassischen Gasthörerstudium, dem Seniorenstudium und dem regulären Vollzeitstudium bewegen möchten, ihre Leistungen in Form von Zertifikaten anerkennen lassen. Ältere Studentinnen und Studenten haben die Möglichkeit, festgelegte Module zu absolvieren und in vier bis sechs Semestern etwa 30 ECTS zu erwerben, die an unterschiedliche Anforderungen wie Klausuren, Hausarbeiten oder Referate geknüpft sind. "Wollen die Senioren etwa im Museum ehrenamtlich Führungen übernehmen, können viele der Zertifikate hilfreich sein, da sie bürgerschaftliches Engagement und fachliches Wissen bestätigen", erläutert Schmitt.

Wie die Zertifikatsprogramme der Hochschulen variieren, so unterscheiden sich auch die Studienangebote für Senioren hinsichtlich der Teilnahmevoraussetzungen und der Gebühren. Während Patzig an der Universität Leipzig 80 Euro für ein Semester zahlt, werden in Hannover 128 Euro für denselben Zeitraum fällig. An der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zahlen die Senioren sogar 300 Euro, wenn sie Veranstaltungen mit insgesamt mehr als acht Semesterwochenstunden belegen. In Bayern müssen Seniorenstudierende zur Einschreibung außerdem ein Abiturzeugnis vorlegen, was in den meisten anderen Bundesländern nicht der Fall ist. "Die nachgewiesene Berufstätigkeit ist stattdessen aber auch oft anrechenbar", so Bertram. Der Vorsitzende der BAG Wiwa schätzt, dass ein Drittel der älteren Studierenden Akademiker sind und bereits ein erstes Studium abgeschlossen haben, bevor sie sich Jahre später erneut immatrikulieren.

Mit seinen Kommilitonen aus dem Erststudium, die alle über 70 sind, hat Patzig noch Kontakt. Ein Ausflug führte die Gruppe Anfang dieses Jahres nach Wittenberg - die Stadt, die der Seniorenstudent im Rahmen eines Seminars kurz zuvor mit seinen jetzigen Kommilitonen besucht hatte. "Durch die Exkursion war ich bestens vorbereitet", sagt er. "Aber nicht mit Informationen, die ich auf die Schnelle bei Google fand, sondern mit fundiertem Wissen, das ich mir so nicht hätte anlesen können."

© SZ vom 06.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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