Schweiz:Alpenland, Musterland

Lesezeit: 3 min

Das Schweizer System gilt vielen als Vorbild - doch auch dieses Modell hat manche Schwäche.

Thomas Kirchner

(SZ vom 22.11.2002) Mit den Medien hat Jürg Brechbühl normalerweise nicht viel zu tun. Am vergangenen Freitag allerdings wurde der Vizedirektor des Schweizer Bundesamts für Sozialversicherung von deutschen Journalisten bestürmt. Radio-, Fernseh- und Presseleute ließen sich von ihm das eidgenössische Rentensystem erklären. Denn die Schweizer, so ist in der deutschen Debatte immer wieder zu hören, die Schweizer machen das irgendwie besser. Und nicht nur die Altersversorgung, auch das Gesundheitssystem gilt als vorbildlich.

Beispiel Rente: Die Vorsorge ruht auf drei Säulen, die das Risiko verteilen. Nur die erste, die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), ist umlagefinanziert wie im deutschen System, die Jungen zahlen für die Alten. Das entschärft das auch auf die Schweiz zukommende demographische Problem. Die AHV soll die Existenz aller Bürger sichern, und alle, auch Selbstständige, Beamte, Studenten oder Arbeitslose, tragen dazu bei. Beitragsbemessungsgrenzen gibt es nicht. Die Beiträge in Höhe von etwa zehn Prozent werden nach dem vollen Einkommen berechnet, doch auch Spitzenverdiener erhalten nicht mehr als die Maximalrente, die derzeit bei 2060 Franken im Monat liegt, minimal sind es 1030 Franken. "Das ist das soziale Element", sagt Brechbühl, "hier kommt es zu einer deutlichen Umverteilung von den gut zu den schlechter Verdienenden." Auch einer allein lebenden Mutter, die Teilzeit arbeitet, kann auf diese Weise eine angemessene Rente gezahlt werden.

Ergänzt wird die Grundrente von der kapitalfinanzierten zweiten Säule, der betrieblichen Altersversicherung. Sie ist seit 1985 obligatorisch für Einkommen von über 25000 Franken und soll den bisherigen Lebensstandard im Alter sichern. In die Pensionskassen zahlen Arbeitnehmer im Schnitt etwa fünf Prozent ihres Lohns ein, noch einmal so viel kommt vom Arbeitgeber. Der Kapitalstock ist auf etwa 600 Milliarden Franken angewachsen. Es gibt tausende Pensionskassen, die das Geld unterschiedlich anlegen, jüngst wieder weniger in Aktien, da sie von den Börsen-Turbulenzen stark getroffen wurden. Garantieren müssen sie eine Verzinsung von bisher vier, demnächst nur noch 3,25 Prozent.

Wer zusätzlich individuell vorsorgen will, investiert in die dritte Säule, eine Art Schweizer Riester-Rente auf niedrigerem Niveau. Arbeitnehmer dürfen bis zu 5800 Franken, Selbstständige bis zu 29.000 Franken jährlich von ihrem Einkommen abzweigen und auf einem Konto oder als Versicherung anlegen. Im Alter wird die Summe dann ausbezahlt, entweder als Rente oder auf einmal, und sie wird zu einem niedrigen Satz besteuert.

Beispiel Gesundheit: Vor zwei Jahren wurde das 1996 in Kraft getretene Schweizer Krankenversicherungsgesetz in Gütersloh mit dem Carl-Bertelsmann- Preis ausgezeichnet, für "marktwirtschaftliche Elemente, die aber sozialverträglich gestaltet sind". Genau dies war das Ziel des Gesetzes: mehr Wettbewerb zu ermöglichen und gleichzeitig mehr Solidarität unter den Versicherten. Die Schweizer selbst waren immer skeptischer und sehen sich jetzt bestätigt. Das Ziel, die Kosten und damit die Beiträge zu senken, ist verfehlt worden. Jahr für Jahr steigen die Prämien, zuletzt um fast zehn Prozent. Pro Kopf liegen die Ausgaben für Gesundheit nur in den USA höher als in der Schweiz.

Dennoch geht die Reform in zweierlei Hinsicht in die richtige Richtung. Eine Basisversicherung garantiert allen die medizinische Grundversorgung, mit Ausnahme der Zahnarztkosten. Spezielle Leistungen wie die freie Krankenhauswahl kosten zusätzlich. Mitglieder einer Kasse zahlen die gleiche Prämie für die Grundversorgung, ob reich oder arm. Allerdings variieren die Beiträge von Kanton zu Kanton und von Kasse zu Kasse teilweise um mehrere hundert Franken im Monat. Hier sollte der Wettbewerb greifen, doch die meisten Schweizer ignorieren die immer neue Aufforderung, endlich die Kasse zu wechseln. Erfolgreicher sind die Sparangebote. Wer eine hohe Selbstbeteiligung akzeptiert - bis zu 1400 Franken im Jahr sind erlaubt - und sich verpflichtet, zuerst zum Hausarzt oder in eine bestimmte Praxis zu gehen, senkt die Prämie um bis zu 40 Prozent.

Die Schweiz ist dennoch kein sozialeres Land. Das Netz hat weitere Maschen als in Deutschland, was auch daran liegt, dass die Alpenrepublik bei der Wohlfahrt Nachzügler war. Die Arbeitnehmer haben weniger Rechte, noch immer gibt es keine einheitliche Mutterschutz-Regelung, und die versteckte Armut, gerade alter Menschen, bleibt ein Problem. Doch funktionieren die Systeme der sozialen Sicherung besser und sie sind bürgernäher, weil sie stärker auf die Verantwortung des Einzelnen und - in Maßen - auf Wettbewerb setzen. Vielleicht lassen sich innovative Ansätze in der Schweiz leichter durchsetzen, weil sie ein kleines, reiches Land ist. Weil sie wissen, dass ihre Entscheidungen in der Volksabstimmung gekippt werden können, schauen die Politiker den Bürgern genau aufs Maul. Und die haben sich tiefen Griffen in ihre Geldbeutel noch stets verweigert.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: