Schuluniformen:Aldi-Kinder gehören nicht dazu

Lesezeit: 7 min

Braune Horden, grüne Pullover: In Deutschland wird wieder über eine einheitliche Schulkleidung gestritten. Warum tun wir uns so schwer damit?

Gerhard Matzig

Jan müsste jetzt 16 Jahre alt sein. Es wäre schön, wenn man wüsste, ob er denn nun tatsächlich Zoologe wird. So, wie er sich das damals vorgestellt hat. Damals, vor sieben Jahren, als all die Reporter nach Hamburg kamen, um Jan und den anderen Schülern der Sinstorf-Schule einen Platz in den Archiven zu sichern.

Schülerinnen in Hanoi: Der vietnamesische Designer Tran Hin Puh entwirft Schuluniformen auch für Europa. (Foto: Foto: ReutersSchu)

Die Klasse 5B der backsteinern im Grünen gelegenen Haupt- und Realschule war im Jahr 2000 sehr beliebt als Zitat-Gehege. Die Sinstorf-Schule war eine der ersten deutschen Schulen, an denen eine sanfte Variante - nur Oberbekleidung - der klassischen Schuluniform eingeführt wurde. Das ist jene Uniform, die an öffentlichen Schulen in Großbritannien, Indien, Australien, Singapur, Neuseeland, Japan oder Zypern, dazu auch an Privatschulen in den USA oder in Kanada seit langem selbstverständlich ist. Nicht so in Deutschland, dem Uni- wie auch viele andere Formen gar so fremd geworden sind. Die Uniform deshalb, weil die Deutschen gelernt haben, dem Waffenrock zu misstrauen. Aber gerade deshalb sollte man sich auf andere "Formen" berufen dürfen - eben auf jene der Zivilität: auf die Bürgertugend des verantwortlichen Gemeinsinns etwa, die sich durchaus einkleiden lässt. Paradoxerweise auch mit Hilfe einer Schul-"Uniform".

Gegen den Markenwahn

Rund 400 Sinstorf-Schüler verfügen seit sieben Jahren über einheitlich gestaltete Pullis, T-Shirts oder andere Oberteile aus einer einmal festgelegten und gelegentlich variierten Kollektion. Deutschland wird seither durch einen Antagonismus charakterisiert. Auf der einen Seite der immerzu nur schwelenden Schuluniform-Debatte stehen die Befürworter einer neuen Kleiderordnung. Dazu zählen neben Jan auch Angela Merkel ("Schuluniformen stärken das Gemeinschaftsgefühl"), Edmund Stoiber ("gute Idee"), Brigitte Zypries ("Damit beseitigen wir auch die Burkas") oder Annette Schavan ("gut gegen den Markenwahn").

Auf der anderen Seite stehen die Gegner dieses Vorhabens: "Rund 60 Prozent der Bundesbürger", das ergab eine Umfrage im Mai 2005, "sind gegen die Einführung von Einheitskleidung an Schulen." Kein Wunder: Die Mehrheit der Deutschen, so eine andere Umfrage, lehnt es auch ab, sich im Beruf irgendwelchen Kleiderordnungen zu unterwerfen - wie immer wieder leidvoll zu besichtigen ist. In Europa gibt es kaum ein unbeugsameres Land in Sachen Ästhetik. Zur Mehrheit der Schulkleidungs-Kritiker gehören indessen vor allem die Lehrerverbände, manche Kultusbeamte - und, unfreiwillig, die Hamburger Gymnasiastin Sophie. Inzwischen müsste sie 21 Jahre alt sein. Sie ist so etwas wie der mediale Gegenentwurf zu Jan. Erst beide zusammen illustrieren das Pro und Contra der Debatte auf idealtypische Weise.

Simple Einheitspullover

Er, Sohn einer finanzschwachen Familie mit sieben Kindern, musste inmitten einer zum Teil verhaltensauffälligen Klasse die billigen Discount-Schuhe seiner Brüder auftragen. "Beim Quatschen", so Jan, "haben mir die Mädchen immer auf die Schuhe geschaut." Im Jahr 2000 war er also noch ein "Aldi-Kind". Ein Schulkind, das "nicht dazugehört", weil es die absurde Konkurrenz um Designer-Jeans und Edel-Sneakers, die aus Klassenzimmern Laufstege oder Präpotenz-Kampfstätten machen, nicht bestehen kann.

Jan war auch deshalb einer der ersten Schüler in der 5B, der sich für die Idee der simplen Einheitspullover begeisterte. Die anderen zogen nach, der Pulli wurde beschlossen - und allmählich gehörte Jan "dazu". Eine Mitschülerin, später: "Die Klassengemeinschaft ist anders geworden. Wir verstehen uns besser." Das heißt etwas: Die Klasse bestand aus 28 Schülern, unter ihnen Deutsche, Türken, Kurden, Russen, Inder, Afghanen, Griechen.

Wie hat der Schuluniformen-Test in Bayern funktioniert? Lesen Sie mehr.

Solche und ähnliche Erfolgsgeschichten machten rasch die Runde. Seither erproben immer mehr Schulen die "Schuluniform", die aber hierzulande meist als "Schulkleidung" interpretiert wird. Es geht also nicht um die gesamte Garderobe, wie etwa nach japanischem Vorbild, wo exakt bestimmt ist, welche Farbe das Haarband haben muss oder bis zu welcher Höhe die zweifach gefalteten weißen Söckchen zu tragen sind; es geht lediglich um gleichfarbige Oberteile mit Logo-Aufdruck, zu denen der Rest, Schuhe, Hosen, Jacken, beliebig kombiniert wird.

Darauf und auf den Begriff "Schulbekleidung" legt auch Angela Hager-Krug großen Wert. Sie ist die Schulleiterin der bayerischen Orlando-di-Lasso-Realschule in Maisach. Deren 165 Fünftklässler wurden im bislang aktuellsten Feldversuch vor wenigen Wochen mit Shirts in "French Navy" oder "Sky" ausgestattet. "Bisher", so Hager-Krug, "finden das alle gut." In einigen Jahren werden alle 992 Schüler einheitlich gekleidet sein.

Womöglich einheitlich genug, um sich dann auch in ihrer Unterschiedlichkeit besser begreifen zu können.

Distinktionsmerkmal im Klassenzimmer

Übrigens: Ist das, was als "Streetwear" in den Fußgängerzonen dieser Welt nahezu identisch zu haben ist, nicht viel eher geeignet, den Tatbestand der Uniformität zu erfüllen - als dies Schuluniformen je tun könnten? Mit dem Unterschied allerdings, dass Schuluniformen auch den Preis uniformieren und als Distinktionsmerkmal im Klassenzimmer sogar abschaffen.

Von Hamburg bis Bayern: Innerhalb der offiziellen Regelung macht sich also zu Recht eine deutsche Sonderform der Textilanarchie bemerkbar. Mit Hinweis auf den Artikel 2 des Grundgesetzes ("Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" - wozu auch die Bekleidung zählt) kann es nämlich an staatlichen Schulen im Grunde keine Schuluniformkultur geben. Die Schulbehörden können letztlich keine Kleiderordnung gegen das Persönlichkeitsrecht beschließen. Aber im Einzelfall, von Schule zu Schule, ist das machbar - sofern die Erziehungsberechtigten sich gemeinsam mit Lehrern und Schülern darauf verständigen. Ausgerechnet in der sehr deutschen Sphäre der Uniform, der Obrigkeit und des Hierarchiedenkens macht sich also so etwas wie eine Revolution von unten bemerkbar. Es sind gar nicht selten die Schüler, die sich für das Experiment begeistern.

Vor allem deshalb ist das Phänomen auch schon längst in der Ökonomie angekommen. Designer wie der Vietnamese Tran Hin Puh entwerfen zum Beispiel Schuluniformen - für die Schweiz. Und Modeagenturen wie Hecker & Hemmrich haben auf dem Gebiet der "Corporate Fashion" auch die deutschen Schulen ins Visier genommen. Aus Karin Broses Hamburger Initiative - als ehemalige Klassenleiterin der 5B besetzt sie eine der Hauptrollen in der jüngeren deutschen Schuluniform-Historie - ist sogar eine (nicht kommerzielle) Internetplattform geworden: www.schulkleidung.com.

Kinderklamotten als Statussymbole

Für diese Entwicklung auf einem Terrain, das zuvor mit dem Hinweis auf die Hitlerjugend oder auf das DDR-Erbe der "Freien Deutschen Jugend" diskreditiert wurde, gibt es gute Gründe. Denn die einheitlich gestalteten T-Shirts, Pullis oder Kapuzenjacken können das Gemeinschaftsgefühl stärken. Oder, realistischer, überhaupt ermöglichen. Das der Klasse und das der Schule - vielleicht aber auch das einer Generation, die (ausweislich der Shell-Jugend-Studie) über dramatisch geringe Identifikationsmöglichkeiten verfügt. Die Sehnsucht danach ist umso größer. Es geht also um das Substitut von Zugehörigkeit in einer Zeit, deren herausragendes Kennzeichen das der globalen Illoyalität ist.

Daneben soll die Schulkleidung auch den Textilwettbewerb, der aus Kinderklamotten Statussymbole macht, ausbremsen. Wenn dann auch noch die "Sexbomben-Invasion auf den Schulhöfen" (Willi Lemke, Bremens Bildungssenator) zumindest entwaffnet werden kann, die sich mitunter auch bei elfjährigen Lolitas aus nach oben gezogenen String-Tangas einerseits und nach unten gezogenen Hosen sowie nabelfreier Oberbekleidung andererseits nährt: umso besser.

Aber hier kommt Sophie, die Hamburger Gymnasiastin und Gegenspielerin von Jan ins Spiel. Und mit ihr ein durchaus hörenswertes Argument. Sophie hat, das war im Jahr 2003, für die Dauer der elften Klasse ein irisches Internat besucht: das 1669 begründete "The King's Hospital" in Dublin. Schon die Homepage dieses angesehenen Instituts kommt einem in kariertem Tweed und Krawatte entgegen. Sophie bekam außerdem schwarze Collegeschuhe, dunkelblaue Kniestrümpfe, eine weiße Bluse, die immer zugeknöpft sein muss, und einen Pullover mit dem Emblem der Schule.

Die Hackordnung an Schulen lässt sich auch durch Schuluniformen nicht verändern. Lesen Sie mehr.

Sie fand's erst ganz schrecklich, dann ganz toll - und erzählte nach ihrer Rückkehr, wie sie das Geschick entwickelte, durch eine raffinierte Frisur oder mit Hilfe einer neuen Uhr der Uniform etwas Extravaganz und einen eigenen Code abzugewinnen. Das sei, so Sophie, extrem wichtig gewesen, "denn trotz Uniform war immer klar, wer dazugehört und wer nicht." Solche Aussagen beleben die Uniformkritik - denen der alberne Hinweis auf die Hitlerjugend schon längst abhanden gekommen ist. Historisch falsch ist das Argument ohnehin: Die Uniformen der HJ durften in den Schulen eben nicht getragen werden.

Viel interessanter ist in diesem Zusammenhang also ein ganz anderer Aspekt: Die Hackordnungen an den Schulen sind immer seltener Analogien zu den Kleiderordnungen. Handy, Gameboy und iPod: Das sind die neuen Statussymbole, die selbst durch strenge Schuluniformen (geschweige denn durch die locker gehandhabten Schulkleider) nicht in den Griff zu bekommen sind.

Debatte in der Endlosschleife

Irgendeinem Jan steht in den vielen, mal mehr, mal weniger glücklichen Schuluniform-Episoden der Archive also immer auch irgendeine Sophie gegenüber. Die Einzelfälle weisen somit keinen Weg aus der Endlosschleife unserer Schuluniform-Debatte. Einige Schulen lobpreisen ihr Modell der einheitlichen Schulkleidung und verweisen auf die schönsten pädagogischen Erfolge, andere haben den Versuch abgebrochen oder versanden lassen - und wissen nun nicht recht, was für Schlüsse daraus zu ziehen wären. Es fehlt (noch) an der Empirie. Vor allem die Studie des Psychologen Oliver Dickhäuser, Universität Gießen, muss deshalb immer wieder bemüht werden.

Dickhäuser hat Hamburger Schüler als "Träger" und "Nichtträger" einheitlicher Schulkleidung miteinander verglichen und kommt zu diesem bemerkenswerten Ergebnis: "In Klassen, in denen die Schüler bereits seit zwei oder drei Jahren die Schulkleidung tragen, herrscht ein besseres Sozialklima, eine höhere Aufmerksamkeit - und sie fühlen sich sicherer:" Das entspricht zudem einer amerikanischen Studie: Im kalifornischen Long Beach District wurden im Schuljahr 1994/1995 für 60000 Schüler Uniformen eingeführt. Seither, so die Erhebung, gab es dort weniger Gewalt unter Schülern.

Angst vor uniformen Abgründen

Dennoch: Es gibt auch ein britisches Unternehmen, das erst kürzlich ein Sortiment "stichsicherer Schuluniformen" entwickelt hat. Die 190 Euro teuren Uniformen der Firma BladeRunner sollen aus demselben Material gefertigt sein, das für die Herstellung von Soldatenuniformen verwendet wird. "Wir reagieren", so ein Firmensprecher, "auf die gestiegene Kriminalität an Schulen." So viel zu Großbritannien, dem Schuluniform-Vorbild Nummer eins in Deutschland. Es wäre ja auch zu schön, wenn etwas Farbe und Baumwolle die gigantischen Probleme der deutschen Pädagogik lösen könnten.

In Zeiten jedoch, in denen die Schwarz-Rot-Gold-Euphorie des WM-Jahres 2006 (gefolgt von der allgemeinen Trachten-Glückseligkeit des Wiesn-Jahres 2007) geeignet ist, die Angst vor uniformen Abgründen als unbegründete Hysterie zu markieren, darf man sich den Möglichkeiten der textilen Gemeinsinnstiftung ruhig zuwenden. Schon ein blaues Polohemd mit der Aufschrift "Grundschule an der Gebelestrasse", das manche Münchner Gebele-Schüler an manchen Tagen zum Unterricht tragen, unterstützt von manchen Lehrkräften, manchen Eltern und manchen Sponsoren, könnte ein erster Schritt sein, der den Totalitarismusverdacht ebenso lächerlich erscheinen lässt wie den Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht.

Deutschland besitzt ein Schulsystem, in dem die Ungleichheit institutionalisiert und die Chancengleichheit fast eine Farce ist. Gleichheit, die eine Form, die Uniform: Das ist deshalb tatsächlich ein bedeutsames Stichwort - und viel mehr als eine Skurrilität der einen oder anderen Elterninitiative. Die Initiative einer einheitlichen, womöglich ansatzweise identifikatorisch wirksamen Schulkleidung wird aber natürlich dennoch kaum etwas an den sozial bedingten Fliehkräften unseres Schulsystems ändern können. Weder rote, blaue, grüne oder gelbe Schulkleidung kann die im Elternhaus oder in der Bildungspolitik verursachten Mängel beheben. Dass aber nun angesichts einiger T-Shirt-Initiativen ausgerechnet die Lehrerverbände vor uniformierten Horden im Gleichschritt warnen, lässt befürchten, dass solche Kritik Probleme damit hat, sich die Gleichheit auch als Chancengleichheit vorzustellen. Deutschland sollte also endlich aufschließen zu Zypern oder Neuseeland - und sich für die Einführung der Schulkleidung entscheiden.

© SZ vom 27.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: