Schachtraining an Schulen:Die Strategie der Jüngsten

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

An immer mehr Grundschulen wird Schach als Wahl- oder Pflichtfach unterrichtet. Denn das Brettspiel soll das mathematisch-analytische Denken von Kindern verbessern und soziale Kompetenzen fördern. Stimmt das?

Von Miriam Hoffmeyer

Für den schwarzen König sieht es schlecht aus. Zug um Zug treiben ihn die weißen Türme an den Spielfeldrand, bis er nicht mehr ausweichen kann: schachmatt! Felix Brychcy bringt die Figuren auf dem großen Magnet-Schachbrett an der Wand wieder in die Ausgangsposition. "Welcher Turm ist der Jäger, welcher ist der Wächter?", fragt er. Michael und Vincent strecken die Arme hoch, andere Schüler schauen ratlos. Seit zwei Monaten haben die Erstklässler jeden Freitag eine Pflichtstunde Schach. "Heute geht es zum ersten Mal um das Anwenden eines strategischen Plans", erklärt Schachtrainer Brychcy, der seit mehr als zehn Jahren an die Grundschule an der Burmesterstraße in München-Freimann kommt. Die Kinder sollen jetzt zu zweit das Mattsetzen mit zwei Türmen üben. "Ich will lieber richtig spielen", mault Vincent und ist froh, als die Zeit bis Schulschluss noch für eine schnelle Partie reicht. Doch seine Spielpartnerin hat vergessen, wie der Springer zieht, es gibt Streit. Am Nebentisch rücken Jana und Jack alle Bauern abwechselnd um ein Feld vor. Felix Brychcy geht geduldig von einem zum anderen, schlichtet und gibt Tipps: "Ihr könnt mit den Bauern auch schlagen!"

Das bislang größte Pilotprojekt läuft in Bremen. 4000 Kinder nehmen daran teil

Seit 2007 fördert die Münchener Schachstiftung gemeinsam mit Sponsoren Schachunterricht an Grundschulen in Brennpunktvierteln der Stadt. Rund 2500 Kinder der ersten bis vierten Klasse haben bisher teilgenommen. "Ich bin sicher, dass es den Kindern nützt, vor allem in puncto Konzentrationsfähigkeit", meint Felix Brychcy. Dem Strategiespiel werden noch viele andere positive Effekte nachgesagt: Es soll das mathematisch-analytische Denken verbessern, die Entscheidungsfähigkeit stärken und nicht zuletzt die Entwicklung sozialer Kompetenzen wie Fairness und Frustrationstoleranz fördern.

In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren sind auch deshalb immer mehr Schulschach-Projekte entstanden. Die Deutsche Schulschachstiftung, in der viele schachbegeisterte Lehrer Mitglied sind, veranstaltet jedes Jahr gemeinsam mit der Deutschen Schachjugend einen Kongress. In vielen Bundesländern haben einzelne Schulen - so wie die Grundschule an der Burmesterstraße - Schach verpflichtend für einige oder alle Klassen eingeführt. In Hamburg ist das Spiel Wahlpflichtfach. Und in Bremen läuft seit dem Schuljahr 2018/19 unter dem Motto "Schach macht schlau!" das bisher größte Pilotprojekt zum Thema: Inzwischen lernen dort circa 4000 Schüler der ersten bis vierten Klasse eine Stunde pro Woche Schach. "Wir haben das verbindlich gemacht, um alle Kinder zu erreichen. Denn an Schach-AGs nehmen meist viel mehr Jungen als Mädchen teil und auch eher Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern", erklärt Nikola Schroth, Grundschulreferentin beim Land Bremen. Gerade Kindern aus nichtdeutschen Familien, die in Bremen mehr als 50 Prozent der Schulanfänger stellen, ermögliche das neue Fach Erfolgserlebnisse, weil gute Deutschkenntnisse dabei weniger wichtig seien als in anderen Fächern.

Das kostspielige Lernmaterial - Spielsets und Demo-Schachbretter, Arbeitshefte und Lernsoftware - wird auch in Bremen von einem Sponsor finanziert. Weil nicht genügend Lehrer gut Schach spielen, lernen viele die Feinheiten gemeinsam mit ihren Schülern, von den Grundlagen bis zu Italienischer Eröffnung und Königsgambit. Bei einer schriftlichen Befragung zeigte sich die große Mehrheit der Lehrer vom Erfolg des Projekts überzeugt. "Das sind aber gefühlte Werte", schränkt Nikola Schroth ein. "Die wissenschaftliche Evaluierung ist nicht abgeschlossen."

Tatsächlich ist nicht erwiesen, dass Schach tatsächlich die segensreichen Effekte hat, die ihm zugeschrieben werden. Als Beleg wird immer noch häufig auf eine Studie der Universität Trier von 2007 im Auftrag der Deutschen Schulschachstiftung verwiesen. Damals hatte die Psychologin Sigrun-Heide Filipp über vier Jahre unter anderem intellektuelle Leistungsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit sowie Leistungen in Rechnen und Rechtschreibung der Schüler zweier Grundschulen verglichen. Die eine Gruppe erhielt Schachunterricht, die andere nicht. Die Professorin fand kaum signifikante Unterschiede. Schlagzeilen machte dann aber die Tatsache, dass eine der Teilnehmerklassen mit Schachunterricht in der sogenannten Vera-Vergleichsstudie, bei der landesweit Deutsch- und Mathematikleistungen von Viertklässlern getestet werden, weit besser abschnitt als der rheinland-pfälzische Durchschnitt. Filipp betont dagegen, dass die Vera-Ergebnisse aus methodischen Gründen "keine gesicherten Schlussfolgerungen" über Effekte des Schachunterrichts zuließen.

Auch international wurden schon zahlreiche Untersuchungen zum Thema veröffentlicht. Im Herbst 2019 führte Russland Schach als Pflichtfach an allgemeinbildenden Schulen ein. Die zweijährige Pilotphase habe erwiesen, dass der Schachunterricht die Schulleistungen verbessere, erklärte das Bildungsministerium in Moskau. Eine groß angelegte, in Großbritannien viel diskutierte Studie der University of London von 2016, an der 4000 neun- und zehnjährige Schüler teilnahmen, fiel hingegen ernüchternd aus. Die Gruppe der Schachlerner und die Vergleichsgruppe wurden zweimal im Abstand von einem Jahr in Sprach- und Lesefähigkeiten, Naturwissenschaft und Mathematik getestet. Ergebnis: keinerlei Unterschied.

Auf jeden Fall dürfte Schach nicht schaden, solange der Zeitaufwand dafür nicht auf Kosten anderer Fächer geht. Für Bremen lässt sich darüber keine Aussage treffen, da dort ohnehin viel Zeit für Projektunterricht vorgesehen ist, um unterschiedliche Kompetenzen zu fördern - nun eben auch durch Schach. An der Grundschule an der Burmesterstraße ist der Schachunterricht ein zusätzliches Fach im Rahmen der Ganztagsschule. "Die Parallelklasse lernt währenddessen Trommeln, vermutlich ist beides gut für die Konzentrationsfähigkeit", meint die stellvertretende Schulleiterin Martina Hezel. Sie möchte den Schachunterricht an ihrer Schule auf keinen Fall missen: "Hier im Münchner Norden sind solche Angebote, die vielleicht zu Hause nicht geleistet werden können, für die Kinder besonders wertvoll."

© SZ vom 13.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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