Nach dem Amoklauf in Winnenden:Rückkehr zum Tatort

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Kann an einem Ort wie der Albertville-Realschule jemals wieder Alltag einziehen und unterrichtet werden? Das Beispiel Erfurt zeigt: Dies kann Teil der Aufarbeitung sein.

Julia Bönisch

Natürlich waren die schrecklichen Bilder von damals sofort wieder da. Die Erinnerungen an den 26. April 2002, als Robert Steinhäuser ins Erfurter Gutenberg-Gymasium eindrang und in nur zehn Minuten 16 Menschen und am Ende sich selbst erschoss, plagten Schüler und Lehrer gestern, noch stärker als sonst.

Die Albertville-Realschule in Winnenden: Mitschüler drücken mit Briefen, Kerzen und Blumen ihre Trauer aus. (Foto: Foto: ap)

Am Tag nach dem Amoklauf in Winnenden liegt in der Erfurter Schule ein Kondolenzbuch aus: "Wir denken an euch", steht dort geschrieben, "Wir sind tief betroffen", Kerzen brennen. Direktorin Christiane Alt, spricht von einem "grauenvollen Rückschlag" für die Schülerschaft und das Kollegium, was die Aufarbeitung des schrecklichen Tages angeht.

Rückkehr an den Tatort

Die Erfahrungen, die man in Erfurt nach dem Amoklauf sammelte, können nun Schülern, Lehrern und Eltern in Winnenden helfen. Dort kann sich bislang niemand vorstellen, dass in der Albertville-Realschule, dem weißen Flachbau, vor dem heute die Flaggen auf Halbmast wehen, jemals wieder normaler Unterricht stattfinden wird. Eine Mathestunde in einem Klassenzimmer, in dem ein Freund und Mitschüler erschossen wurde - das scheint für sie undenkbar.

Doch im Erfurter Gutenberg-Gymnasium ist genau das Realität. Nach dreieinhalb Jahren und einem umfangreichen Umbau zogen Schüler und Lehrer aus einer Ausweichschule aus und wieder zurück in das Jugendstilgebäude von damals. In einer Projektwoche bereiteten sie sich gemeinsam auf diesen Moment vor, die Rückkehr an den Tatort.

Gedenken im "Raum der Stille"

Bei der Renovierung, für die der Bund 9,9 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hatte, wurde darauf geachtet, das Haus sehr hell und freundlich zu gestalten. Unter einer großen Freitreppe verbirgt sich heute die Aula, von den obersten Stufen fällt der Blick in die Klassenräume der unteren Etagen. Es wurde komplett neues Mobiliar angeschafft, die Pausenhöfe begrünt. Auf Wunsch der Schüler wurde ein "Raum der Stille" eingerichtet - ein Zimmer für Begegnungen und Gedenken.

Die Entscheidung, in die Schule zurückzukehren, stieß damals längst nicht bei allen Erfurtern auf Verständnis. Doch mittlerweile ist der Umgang mit der Vergangenheit einfacher, denn jedes Jahr verlässt mit den Abiturienten ein Stück Erinnerung das Gutenberg-Gymnasium. Neue Kinder rücken nach, die nicht stärker betroffen sind als andere Erfurter und die an die Geschehnisse von damals allenfalls vage Erinnerungen besitzen.

Die Lehrer aber bleiben. Während ihre Schüler irgendwann Abitur machen, zum Studium in eine andere Stadt ziehen und das Erlebte hinter sich lassen können, unterrichten die meisten noch immer am Gutenberg-Gymnasium. Nur wenige haben sich nach dem Jahr 2002 um eine Stelle an einer anderen Schule bemüht.

Videokameras im Klassenzimmer

Diese Erfahrung zeigt: Gibt man den Überlebenden von Winnenden genug Zeit, könnten auch sie eines Tages an ihre Schule zurückkehren - doch dafür müssen sie erst das Vertrauen wiedererlangen, dass ihre Schule ein sicherer Ort ist. "In den ersten Tagen und Wochen könnten zum Beispiel Polizisten vor Ort sein, die ein Gefühl von Schutz vermitteln", sagt der Schulpsychologe Hans-Joachim Röthlein, der die Überlebenden von Erfurt betreut hat. Auch Videoüberwachung des Schulhofes und der Klassenräume könne später bei den Schülern den Eindruck verstärken: "Hier kann uns nichts passieren."

Noch ist es für eine Rückkehr allerdings viel zu früh: Bis Schüler und Lehrer überhaupt erst damit beginnen, mit Hilfe von Psychologen die furchtbaren Ereignisse aufzuarbeiten, werden noch Tage vergehen.

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