Mein Kollege sagt ...:"Ich wohne im Büro"

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Wenn die Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht gerät, verbringt der Kollege mehr Zeit im Büro als daheim. Die Firma freut's - und fördert das Verhalten mit ausgeklügelten Strategien.

Julia Bönisch

"Und hier wohnen Astrid, Gerd und Martin aus dem Marketing." So lauten die Worte, mit denen die Kollegin dem neuen Praktikanten erklärt, welche Abteilungen sich hinter den angelehnten Bürotüren verbergen.

Die Zahnbürste auf dem Schreibtisch, das Zelt darunter: So hält es der Kollege Tage im Büro aus, ohne sein Zuhause zu vermissen. (Foto: Illustration: Astrid Müller)

Wohnen - nicht arbeiten. Auf der einen Seite ruft das angenehme Assoziationen wach. Wohnen klingt nach Couchgarnitur, Gemütlichkeit und CD-Sammlung, nach Fernsehabend und Birkenstock-Puschen.

Der Halbtagsjob endet um 19 Uhr

Auf der anderen Seite verdeutlicht das Wörtchen schlagartig, dass die Work-Life-Balance völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wer im Büro wohnt, hat kein Privatleben mehr. Aber was soll man anderes tun, wenn die Kollegen flachsen, "Hey, wir wussten gar nicht, dass du einen Halbtagsjob hast", wenn man um 19 Uhr seine Tasche packt. Dann bleibt man eben da.

Nach einiger Zeit sind die Kollegen die einzigen Freunde, die Familie ruft nur noch die Dienstnummer an, weil daheim sowieso niemand ans Telefon geht, und der halbe Hausstand befindet sich in der Schreibtischschublade.

Duschen in der Firma

Vor allem Frauen horten am Arbeitsplatz alles von A wie Aspirin bis Z wie Zahnbürste, um für den Notfall gerüstet zu sein. In einer durchschnittlichen Damen-Schreibtischschublade finden sich Schokolade, eine Haarbürste, Handcreme, eine Ersatzstrumpfhose (weil die Unterseite des Konferenztisches so schlecht geschmirgelt ist), Haarspray, Make-up, Kaffeepads, Tampons (Vorsicht: Verwechslungsgefahr!) und eine kuchenbeschmierte Tupperdose.

Damit lässt es sich überleben, ohne dass Kollegen bemerken, dass man schon ein paar Tage nicht mehr zu Hause war. Da moderne Unternehmen ihren Beschäftigten neuerdings Duschen zur Verfügung stellen, um deren sportliche Aktivitäten vor und nach dem Dienst zu unterstützen, lässt sich auch das Geruchsproblem locker in den Griff kriegen.

Auf der nächsten Seite: Warum hinter solchen, vermeintlich arbeitnehmerfreundlichen Angeboten eine ausgeklügelte Strategie der Geschäftsführung steckt.

Bierautomat in der Cafeteria

Vermutlich steckt hinter solchen, vermeintlich arbeitnehmerfreundlichen Angeboten eine ausgeklügelte Strategie der Geschäftsführung: Mitarbeiter, die rund um die Uhr verfügbar sind und von morgens bis abends am Schreibtisch sitzen, leisten mehr. In diesem Lichte sind vermutlich auch der Bierautomat in der Cafeteria und das Angebot zur kostenlosen Rückenschule zu betrachten. Wer alles so greifbar nah hat, verlässt die Firma nur noch ungern.

Hat der Kollege das einmal durchschaut, ergibt das ganze Geschwafel über Home Office und motivierender Selbstorganisation endlich einen Sinn. Praktisch ist es auch: Wer gleich dort einzieht, wo er arbeitet, spart eine Menge Geld. Er kann sein Auto verkaufen, weil er nicht mehr ins Büro fahren muss. Er zahlt keine Miete, Heizkosten entfallen und Lebensmittel muss er auch nicht einkaufen, weil er sich künftig komplett in der Kantine ernährt. Und jetzt kann er auch Handy und Blackberry abschaffen: Wer unter dem Schreibtisch campiert, ist im Büro ja permanent erreichbar.

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