Lernen in Südkorea:Jugend ohne Schlaf

Lesezeit: 3 min

Südkoreas Schüler schneiden bei Pisa hervorragend ab, doch die Kritik an der unentwegten Paukerei wächst: Betrugs- und Bestechungsfälle häufen sich, unter Schülern nehmen Depressionen zu, spektakuläre Selbstmorde schockieren das Land.

Matthias Kolb

Der Traum aller südkoreanischen Eltern hat drei Buchstaben: SKY. Die Abkürzung steht für die Elite-Hochschulen des Landes: Seoul National University, Korea University und Yonsei University. Damit es die Kinder dorthin schaffen, ist den Familien kaum ein Opfer zu groß. Und so gilt es als normal, ein Drittel des Einkommens in die Ausbildung der Kinder zu stecken oder sich dafür zu verschulden. Wissenschaftler sprechen von einem "Bildungsfieber", das die Koreaner, aber auch viele Familien in Japan, Taiwan, Hongkong und in der chinesischen Mittelschicht erfasst hat.

Bei Pisa liegen südkoreanische Schüler regelmäßig in der Spitzengruppe. (Foto: Foto: dpa)

Viele Mütter kümmern sich hier wie Manager um das Lernprogramm ihres Nachwuchses und planen es Jahre im Voraus. So landen die 15-jährigen Südkoreaner auch in der aktuellen Pisa-Studie wieder in der Spitzengruppe. Die Koreaner sind stolz auf das gute Abschneiden ihrer Jugendlichen, dennoch wächst der Unmut über das Bildungssystem. Das Schulwesen sei zu stark auf die Aufnahmeprüfung für die Universitäten ausgerichtet, sagen Kritiker. Da der Test für alle Oberschüler gleich ist, werden vor allem Fakten auswendig gelernt, aber kaum eigenständiges Arbeiten geübt und Kreativität gefördert. Fast alle Kinder besuchen nach sechs Jahren Grundschule jeweils drei Jahre die Mittel- und Oberschule. Die Konkurrenz ist enorm. Denn es gibt nur wenige Plätze an den Top-Unis und die Leistungen vor den Aufnahmeprüfungen zählen kaum.

Am Prüfungstag hält das ganze Land den Atem an. Beamte und Angestellte gehen später zur Arbeit, damit es nicht zu Staus kommt; die Polizei bewacht den Transport der Multiple-Choice-Aufgaben. Für Flugzeuge herrscht eine halbe Stunde lang Start- und Landeverbot, weil es im Englischtest eine Übung zum Hörverständnis gibt.

Bildung ist in Südkorea auch ein großes Geschäft. Im Jahr 2004 gaben Eltern insgesamt 14 Milliarden Dollar dafür aus. Hohe Summen fließen in private Paukanstalten, im Koreanischen "hagwon" genannt, die auf den Aufnahme-Test der Unis vorbereiten. Mindestens 75 Prozent aller Mittel- und Oberschüler besuchen diese Nachhilfe-Institute. Für die Kurse sind pro Fach monatlich mindestens 200 Euro fällig. Bei den Preisen gebe es nach oben keine Grenzen, sagt Kong Mahn Park. Seine Tochter Sun Yon bereitete sich drei Jahre lang im "hagwon" in fünf Fächern auf die Prüfung vor, die sie nun vor wenigen Tagen gemeinsam mit 585 000 Schülern ablegte. Park seufzt: "Alle Eltern machen es so."

Betrug und Depression

So quälte sich Sun Yon durch ein enormes Arbeitspensum. Nach dem Unterricht an der High School in Seoul fuhr sie nachmittags zu den Kursen, die gegen 21 Uhr endeten. Mit der U-Bahn ging es nach Hause, wo noch die Hausaufgaben warteten. Auch am Wochenende wird gepaukt, oft müssen sich Schüler das Sprichwort anhören: "Mit vier Stunden Schlaf hat man alle Chancen, fünf Stunden sind zu viel." Die meisten beißen sich durch, da Kinder im konfuzianisch geprägten Südkorea den Eltern selten widersprechen und alle Freunde das gleiche Programm absolvieren. Die Schattenseiten des Verfahrens, das der Pädagogikprofessor Jean-Gon Cheong "die Hölle auf Erden" nennt, werden aber immer deutlicher: Betrugs- und Bestechungsfälle häufen sich, unter Schülern nehmen Depressionen zu, spektakuläre Selbstmorde schockieren das Land. Noch immer erinnern sich viele daran, als vor vier Jahren eine Schülerin aus dem 25. Stock sprang, weil sie ihr Wunschergebnis in der Prüfung nicht erreicht hatte.

In kaum einem anderen Land verbringen 15-Jährige mehr Zeit mit der Schule und dem Lernen. Der frühere OECD-Bildungsdirektor Barry McGraw sieht hier die größte Herausforderung: "Südkorea muss versuchen, das hohe Bildungsniveau zu halten und zugleich den Jugendlichen mehr Freizeit zu geben."

Der Pädagogikprofessor Hyun-Jeong Park von der Seoul National University plädiert dafür, das Lernumfeld zu verbessern und die Schüler zu entlasten. "Dies ist noch wichtiger, als die Anzahl der Schüler pro Klasse von momentan 35 zu reduzieren", sagt Park. Doch auch dies müsse sich ändern; Korea zählt zu den Staaten mit den meisten Schülern pro Klasse. Dafür legt das Land großen Wert auf die Auswahl der Grundschullehrer. Nur die besten Studenten dürfen später die Kleinen unterrichten. Eine vor kurzem veröffentlichte McKinsey-Studie zum Vergleich von Bildungssystemen legt nahe, dass vor allem die Qualität der Lehrer die guten Resultate der koreanischen Schüler erklärt.

Wie kritisch dennoch immer mehr Bürger die eigenen Schulen sehen, zeigt ein neuer Trend. Etwa 60.000 junge Südkoreaner besuchen weiterführende Schulen im englischsprachigen Ausland, meist unter Betreuung der Mütter. Zurück bleiben die Väter, die das nötige Geld verdienen. Soziologen sprechen von "Wildgänse-Vätern", die ihren Familien auch über lange Distanzen treu bleiben und diese wie Zugvögel nur kurz besuchen. Sie sind getrieben von dem Wunsch, dass es ihre Kinder auf eine Spitzen-Universität schaffen, wenn nicht in Korea, dann vielleicht in England oder den USA.

© SZ vom 3.12.2007/bön - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: