Lehrer an Internaten:Wie in einer großen Familie

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Pädagogen, die an Internaten unterrichten, betreuen ihre Schüler häufig auch als Hausmütter oder -väter.

Von Christine Demmer

Der Arbeitstag von Christian Helm, 49, beginnt um sieben Uhr früh und endet um 22 Uhr. Vormittags unterrichtet er Biologie oder Chemie, mittags isst er gemeinsam mit seinen Schülern, nachmittags baut er mit ihnen Flugzeugmodelle oder gibt Segelkurse, und um 21.30 Uhr kontrolliert er, ob seine Schützlinge wohlbehalten im Haus sind. Helm ist nicht nur Lehrer im Internat Louisenlund in Güby (Schleswig-Holstein), sondern auch Hausvater für elf Neuntklässler. Seine Frau arbeitet als Lehrerin an derselben Internatsschule und kümmert sich als Hausmutter um neun Schülerinnen. Das Lehrerpaar lebt mit seinen drei Kindern in einer Wohnung im Internat. "Das gibt einem was", schwärmt Christian Helm. "Es ist ein schöner Lebensort. Nicht so anonym wie in der Großstadt."

Heidemarie Mohr indes war viele Jahre lang Lehrerin und Rektorin an einer Schule in Baden-Baden. Sie hat nie mit dem Gedanken gespielt, in einem Internat zu unterrichten. Dafür ist sie viel zu eigenständig. "Ein Internat bietet in der Fürsorge einiges für die Lehrer", sagt Mohr. Dabei schwingt mit: Wer's braucht. "Man ist viel dichter zusammen, wie eine große Familie, und die Lehrer empfinden das auch so." Staatliche Schulen könnten das nicht leisten, sagt sie ohne Umschweife.

Vormittags Biologielehrer, nachmittags Hausvater. Lehrer an Internatsschulen sind von morgens bis abends mit ihren Schülern beschäftigt. Das erfordert ein hohes soziales Engagement. Dafür entsteht mehr Nähe zwischen den Pädagogen und ihren Schützlingen als an Regelschulen. (Foto: imago)

Das müssen sie auch nicht. Denn nur eine Minderheit der Eltern entscheidet sich für die pädagogische Rundumbetreuung ihrer Kinder. Das passt zur kleinen Gruppe der Lehrer, die bewusst das Leben im Internat wählen. Häufig sind es Pädagogen, die ihrem Beruf mehr Inhalt geben wollen, als sie es an einer Regelschule tun könnten. Dort sehen sie die Kinder nur ein paar Stunden pro Woche. Auch die jährliche Klassenreise schafft nicht die Nähe, die Internatslehrer zu ihren Schülern haben. Das Zusammenleben rund um die Uhr lässt eine zweite Familie wachsen. Das wissen Schüler, die nach dem Abitur eigene Wege gehen, und Lehrer, die keinen anderen Weg gehen wollen. Heidemarie Mohr: "Viele Lehrer bleiben im Internat, weil sie sich an das System, an die Wärme gewöhnt haben."

Sie kommen nicht immer ganz freiwillig. Jana Willkommen, 40, hat in Biologie promoviert und anschließend ein Jahr lang als Schwangerschaftsvertretung an einem berufsbildenden Gymnasium in Tübingen unterrichtet. "Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich geblieben", sagt sie. Da Baden-Württemberg damals keine Stellen für Quereinsteiger anbot, wechselte sie an die Uni Kiel. Forschung und Lehre hatten ihr durchaus gefallen. Doch dann entdeckte sie die Stellenausschreibung eines privaten Internats in Schleswig-Holstein: "Lehrkräfte in Voll- und Teilzeit gesucht". "Ich habe mich beworben und wurde genommen", sagt Willkommen und strahlt dabei wie jemand, der den Jackpot gewonnen hat. "Man ist viel enger an den Schülern dran", begründet sie ihren Schritt, "die Beziehungen sind vertrauter. Man geht zusammen essen, man sieht die Schüler öfter, man lernt die jungen Menschen besser kennen." Mehr als 15 oder 16 junge Menschen umfasse keine Klasse - ein Traum für jeden Lehrer. "Da kann ich auf die Schüler eingehen, auch mal kurz im Stoff abbiegen und ein aktuelles Thema diskutieren." In den Staatsdienst möchte Willkommen nicht zurück: "Als Internatslehrer haben wir trotz Einhaltung der staatlichen Auflagen mehr Freiheit."

Wegen ihrer Neigung, nicht wegen des Gehalts gehen Lehrkräfte an ein Internat

Reines Zuckerschlecken ist der Beruf dennoch nicht. Internatslehrer arbeiten länger als Lehrer an Regelschulen, weil sie nachmittags und abends Arbeitsgruppen leiten und Betreuungsfunktionen übernehmen. Sie verdienen weniger Geld und können keine stattliche Pension erwarten. "Gute Internate bieten eine betriebliche Altersabsicherung an. Ehrlich: Wir gehören nicht zu den Schlechtverdienern", merkt Christian Helm an. Das Einkommen allerdings sollte bei der Entscheidung für diesen Schritt ein nachrangiges Argument sein. "Es ist eine Neigungssache", sagt Helm. Das könne man nicht erklären. Für den einen passe das. Für den anderen nicht.

Er und seine Frau entschieden sich gezielt für die Tätigkeit in einem Internat. "Meine Frau war zu DDR-Zeiten in einem Landschulheim, und ich habe die neunte Klasse in England absolviert", erzählt Helm. "Wir kannten also das Zusammenleben in einer großen Gemeinschaft. Und wir fanden das gut." Ein Familienersatz sei es aber nicht. "Das wäre auch das falsche Motiv", sagt Helm. Um die professionelle Distanz zu wahren, hat er seine eigenen Kinder auf eine Regelschule geschickt. "Die laufen auf dem Gelände natürlich immer wieder unseren Schülern über den Weg, aber sie haben eigene Freundeskreise." Was auch gut sei. "Wir trennen unseren Familienraum strikt vom Internatsraum." Unlängst hat er seinen 17-jährigen Sohn gefragt, ob es ihm gefallen habe, auf einem Campus aufzuwachsen. Toll sei das gewesen, habe der Filius gesagt. An allen Freizeitangeboten für die Internatsschüler konnte er teilnehmen. Und einen Gleichaltrigen für allerlei Lehrerfahrungen, wie man pädagogisch so schön sagt, dürfte er immer gefunden haben.

© SZ vom 18.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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