"Meine größte Angst ist, dass ich vor lauter Verzweiflung wieder anfange zu heulen, wie beim letzten Mal. Das war so was von peinlich." Vor dem Jahresgespräch fürchten sich wohl nur wenige so sehr wie die Sekretärin, die mit diesen Worten in einem Internetforum um Hilfe bat. Trotzdem lösen die turnusmäßigen Dialoge, die in vielen Unternehmen demnächst wieder stattfinden, wenig Vorfreude aus. Ohnehin halten viele das Jahresgespräch für eine Alibiveranstaltung ohne Konsequenzen. Der Vorgesetzte auf der anderen Seite des Schreibtischs denkt oft genauso.
Zu viele Vorgesetzte, meint der Bochumer Wirtschafts- und Personalpsychologe Rüdiger Hossiep, sähen das Jahresgespräch nur "als eine lästige Pflichtübung für die Personalakte". Hossiep ist Hauptautor des Ratgebers "Mitarbeitergespräche" für Personalverantwortliche. Es komme sogar vor, dass der Dialog online stattfinde, kritisiert er, etwa wenn Vorgesetzter und Mitarbeiter in verschiedenen Städten arbeiten: "Das ist eine Farce. Wenn die Leute im Arbeitsalltag wenig Kontakt haben, ist die persönliche Begegnung umso wichtiger."
Jährliche Mitarbeitergespräche, in welcher Form auch immer, sind in den meisten größeren Unternehmen seit Jahrzehnten üblich. Nach einer Umfrage der Wirtschaftswoche vom vergangenen Jahr gibt es sie in 90 Prozent aller Aktiengesellschaften, die im Dax, MDax, TecDax oder SDax aufgelistet sind. Auch in vielen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes gehören sie zur Routine. Weniger verbreitet sind sie nur "in Unternehmen, in denen das Personalmanagement rudimentär ausgeprägt ist", etwa im Baugewerbe oder in der Gastronomie, sagt der Wirtschafts- und Sozialpsychologe Klaus Moser von der Universität Erlangen-Nürnberg.
Jahresgespräche finden meist auf den mittleren Ebenen statt, mit Hilfsarbeitern werden sie eher nicht geführt. "Bei nicht so komplexen Tätigkeiten ist das auch weniger angebracht", findet Moser. Hossiep hält dagegen: "Für Niedrigqualifizierte wären Mitarbeitergespräche besonders wichtig. Wertschätzung zu vermitteln ist kein Sozialklimbim." Er weist gern darauf hin, dass das Jahresgespräch sich erst nach dem Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahr 1972 durchgesetzt hat. Damals erstritten die Arbeitnehmer unter anderem das Recht, die Beurteilung ihrer Leistungen und ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten mit der Arbeitgeberseite zu erörtern.
So gesehen sollten Mitarbeiter froh sein über diese Institution. Aber: "Wirklichkeit und Ideal klaffen weit auseinander, in der Praxis ist vieles nicht richtig durchdacht", sagt Hossiep. Das größte Problem ist für ihn die zunehmende Überfrachtung der Gespräche: Einerseits geht es um harte Themen wie Leistungsbeurteilung, Zielvereinbarungen und leistungsabhängige Vergütungen, andererseits aber auch um die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und Chef, die Qualität der Beziehung, kurz: um Vertrauen. Hossiep ist überzeugt, dass das nicht zusammenpasst - und schon gar nicht innerhalb einer Stunde abgehandelt werden kann. Die Controlling-Elemente ruinierten das wichtigste Ziel des Jahresgesprächs: "Die Offenheit geht verloren. Kaum jemand wird seinem Vorgesetzten Defizite offenbaren und um Unterstützung bitten, wenn es um Geld geht."
Es gibt allerdings auch Unternehmen, die Leistungsbeurteilung und vertrauensbildendes Gespräch voneinander trennen. Bei der Lufthansa-Tochter Airplus, die Lösungen für das Management von Geschäftsreisen anbietet, führt seit einigen Jahren jeder Mitarbeiter zwei turnusmäßige Gespräche pro Jahr mit seinem Vorgesetzten, firmenintern "Dialog 1 und 2" genannt. Im ersten geht es darum, ob der Mitarbeiter seine Ziele erreicht hat, und um die Vereinbarung der neuen Ziele. Im zweiten, einige Monate später, stehen die Zusammenarbeit und die berufliche Entwicklung der Mitarbeiter im Mittelpunkt.