Hochschule:Unsere Herbstsemester

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Ziellose Leidenschaft: Zum Vorlesungsbeginn füllen sich Deutschlands Universitäten wieder mit alten Menschen.

Sonja Zekri

Ein Morgen in München. Die Leopoldstraße glitzert in der Herbstsonne, drinnen, in der Ludwig-Maximilian-Universität, schiebt sich im Schummerlicht eine Menschenschlange die hohen Flure entlang, Raum um Raum, bis sie an einem Tisch zu stehen kommt. Hier tragen sich Gasthörer ein, und das heißt auch in München vor allem: Senioren. Zehn, zwanzig, dreißig Meter Senioren. Konservative Schätzung.

"Wir hatten genug Prüfungen": Senioren an der Uni Münster. (Foto: Foto: dpa)

Da ist zum Beispiel Edelgard Posern, 71, ehemalige Ärztin, nun Hörerin der Literatur und Geschichte, genau weiß sie das noch nicht. Thomas Mann hat sie hinter sich, Goethe, das Osmanische Reich, die Kreuzzüge, was halt so liegen geblieben ist in ein paar Jahrzehnten Arbeitsleben. Toll, diese Gelegenheit, sagt sie, ein Geschenk, endlich eine Zusammenschau für das angehäufte fragmentarische Wissen, endlich ein Fundament für all die Neugier. Und was ist mit der Volkshochschule? Dort belegt Frau Posern noch Französisch, Philosophie, Sport. Es gibt so viel zu lernen, so viel zu tun, sie hat kaum Zeit für die Enkel.

Vor ihr steht Walter Zachmeier, 63 Jahre, 9. Semester, der ein Leben als Software-Entwickler hinter sich hat und Veranstaltungen in Meteorologie vor sich. Er will die neuesten Klimamodelle kennen lernen. Es gab ja noch keine Computer, als er zum ersten Mal studierte. Und Winfried Bochnig, 71, früher Raumfahrt-Entwickler, heute Hörer der Alten Geschichte. Griechen, Römer, herrlich, und erst die kleinen Völker, die Lykier, von denen könnten heutige Politiker einiges lernen, sagt er.

Dreimal Semesterbeginn, drei Stundenpläne. Aber Scheine? Prüfungen? Wofür denn, sagen die drei: Wir hatten genug Prüfungen. Jetzt lernen wir zum Vergnügen. Wie auch der Seniorenstudent Erwin Teufel, 66, der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident, der am heutigen Montag ein Philosophiestudium in München aufnimmt.

Zum Vergnügen lernen - das ist an deutschen Hochschulen nicht die Regel. Während die Jungen ihr Studium inzwischen wie einen Businessplan organisieren, weil nur rasante Absolventen eine Chance haben, während sie eigentlich einem Arbeitsmarkt entgegenstudieren, der deutlich signalisiert, dass er für sie keine Verwendung hat, sammeln die Alten prüfungsirrelevantes Wissen mit zielloser Leidenschaft. Das könnte ein Vorbild für die Jungen sein, ist es aber nicht. In den Hörsälen treffen Kommilitonen aufeinander, die mehr trennt als ein paar Generationen. "Die Denke, das Fühlen sind völlig anders", sagt Bochnig: "Zu einem Austausch kommt es höchstens im Promillebereich."

Speziell für Senioren

Dabei verbinden sich im Seniorenstudenten auf den ersten Blick zwei der großen Tendenzen der Gegenwart aufs Gefälligste - die gewaltige demographische Verschiebung, oder auch: die Vergreisung Deutschlands, und das strapazierte Postulat vom lebenslangen Lernen.

Viele Universitäten haben sich auf die neue Klientel eingestellt und maßgeschneiderte Veranstaltungen speziell für Senioren ins Vorlesungsverzeichnis aufgenommen. Hannover bietet einen Kurs an "Sehen - Beschreiben - Bewerten: Wie bewerte ich theatralische Leistungen?", in Hamburg liest Sonja Speeter-Blaudszun über "Reisende forschende Frauen in der Geschichte der Ethnologie", die Universität Dortmund plant im neuen Semester einen bunten Strauß an Senioren-Seminaren von Sozialer Gerontologie und Geragogik über Erziehungswissenschaft bis Theologie. Man weiß inzwischen, dass Naturwissenschaften weniger gefragt sind; gern belegt wird dagegen biografisch oder sozial Relevantes - Geschichte, Philosophie -, auch Schöngeistiges, ja, vor allem Schöngeistiges.

Wenn Hubertus Kohle, Professor für Kunstgeschichte an der Münchner Universität, über Holbein liest oder über Rembrandt, liegt das Verhältnis von Alten zu Jungen im Hörsaal bei vier zu eins. Wenn die Jungen kurz vor Vorlesungsbeginn hereinstürzen, sitzen die Alten schon seit einer halben Stunde bereit, und wenn sie Hubertus Kohle während der Ferien im Konzert oder auf Ausstellungen treffen, sagen sie ihm, wie sehr sie sich auf das Semester freuen.

"Natürlich lese ich lieber vor 500 Leuten als vor 50", sagt Kohle, "ich habe nichts gegen die Alten, aber wenn so viele Ältere da sind, fühlen sich die Studenten verdrängt." Ex-Raumfahrt-Entwickler Bochnig fehlt für solche Klagen jedes Verständnis. Der Dekan habe ihnen nahe gelegt, nur Vorlesungen zu belegen und in den Seminaren Platz für die Jungen zu lassen, und wenn die sich in ihrer eigenen Universität zwischendurch als Gast fühlen, nun ja: "Als Naturwissenschaftler würde ich sagen: Das ist das Darwinsche Prinzip: Wer"s schafft, der schafft"s."

Viele der Alten wollen nicht nur ein bisschen dabei sitzen, ihnen steckt ein Berufsleben in den Knochen mit Hauen und Stechen und Anweisungengeben. Es sind selbstbewusste Kommilitonen. Und längst nicht alle sehen ein, dass sie für die Jüngeren den Platz räumen sollen. Die Situation ist ja auch absurd: Ein 76-Jähriger, der für einen 25-Jährigen aufsteht. In Dresden dagegen würde der Kunsthistoriker Jürgen Müller gern auch vor einigen Älteren lesen, aber Jahrzehnte der DDR-Tradition haben die Bürgerlichkeit fortgedrängt - und mit ihr die Klientel für ein Seniorenstudium. Der Rektor der Frankfurter Universität hingegen hatte im Sommer die Alten aus den Hochschulveranstaltungen aussperren wollen. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Der Andrang der Alten in den deutschen Universitäten ist nicht überall gleich stark, aber immer dort, da sind sich die Experten einig, wo er die kritische Masse übersteigt, wo die Studenten sich als Gast in der eigenen Hochschule fühlen, da knirscht es.

Die Alten seien gebildeter als die Jungen, besser vorbereitet, sprachkundiger, disziplinierter. Sagen die Alten. Ihr Lernverhalten bewege sich gelegentlich am Rande der Berieselung, sagen die Jungen, mit dem Abenteuer lebenslangen Lernens jedenfalls habe ihre brave Kanonhörigkeit wenig gemein. "Es ist schon auffällig, dass sie immer da sitzen, wo das Standardrepertoire vermittelt wird, der schöne Bach, Haydn, Mozart", sagt die Kölner Musikwissenschaftlerin Olivia Ehlers: "In Systematik findet man sie nie." Selbst Studenten, die den Alten wohlwollend gegenüber stehen, können von Italienisch-Kursen erzählen, in denen die Alten Stunde um Stunde Geschichten vom letzten Palermo-Urlaub zum Besten gaben.

Klammheimlich, so vermutet ein Geisteswissenschaftler sogar, verachteten die Ex-Manager, Ex-Ärzte, Ex-Anwälte die schöngeistigen Fächer: Sie hielten sie für eine großartige Vorbereitung für den Toskana-Urlaub, aber doch keine ernsthafte Berufsausbildung! Angesichts einer Hörerschaft, die vor Vorlesungsbeginn die Hörgeräte justiert, so die Sorge eines Dozenten, könnte die Quantität irgendwann in Qualität umschlagen, könnte der Professor - bewusst oder unbewusst - kritische Methodik zugunsten schöngeistiger Erbaulichkeiten minimieren.

Sechs Universitäten bieten inzwischen ein zertifiziertes Seniorenstudium an. Aber dem Stress eines regulären Studiums mag sich kaum jemand aussetzen, heute noch weniger als vor ein paar Jahren. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen oder Hessen haben Gebühren für ältere Studierende eingeführt, in Köln sind es 650 Euro pro Semester - was die Zahl der ordentlich immatrikulierten Senioren deutlich gesenkt hat. Vor zwei Jahren kamen in Köln auf jeden ordentlich eingeschriebenen Alten zwei ältere Gasthörer, heute ist es umgekehrt, und dieser Trend ist im ganzen Land zu beobachten.

38.900 Gasthörer waren an deutschen Hochschulen im Wintersemester 2004/2005 gemeldet, ein Fünftel mehr als vor zehn Jahren, und knapp die Hälfte davon sind Senioren, doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren, so das Statistische Bundesamt. Die Zahl der ordentlich eingeschriebenen Senioren aber hat sich fast halbiert, von 6500 im Wintersemester 2002/2003 auf 3600 im vergangenen Wintersemester. Und wenn eines Tages Studiengebühren für alle und überall eingeführt werden, dürfte diese Zahl weiter fallen. Schon heute greifen Kontrolleure in den Hörsälen gelegentlich "Schwarzhörer" auf, die keinen Pfennig zahlen, aber sich einen erbaulichen Vormittag machen und die Ehefrau gleich mitbringen. Bildung ist teuer, sie wird noch teurer werden, das wissen auch die Alten.

Ein Labor der Vergreisung

Und die Ökonomisierung der Hochschulen mit Bachelor und Master und Modulisierung wird die Konflikte eher verschärfen. "Früher blieben die Jungen einfach weg, wenn ihnen eine Veranstaltung nicht gefiel, das geht nicht mehr, wenn Anwesenheitspflicht herrscht", sagt Felicitas Sagebiel, die Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Weiterbildung im Alter. Und ob es sich die Hochschulen angesichts eines wachsenden Konkurrenzdrucks weiterhin leisten können, die marketingrelevante Infrastruktur für die Alten aufrechtzuerhalten, ist noch die Frage.

"Ich wäre dafür, das Gasthörerstudium teurer zu machen, überhaupt sollte das Geld den Fakultäten zugute kommen, in denen besonders viele Ältere sitzen", sagt Kunsthistoriker Kohle. Die Kölner Universität, so berichtet der Pädagogikprofessor Hartmut Meyer-Wolters, finanziere nicht nur das Seniorenstudium über die Gasthörer-Gebühren, sondern auch die gesamte Öffentlichkeitsarbeit. Überhaupt hält er die allmähliche Vergreisung der Universitäten geradezu für ein Laboratorium für kommene Entwicklungen: Jüngere Absolventen, die später im Berufsleben mit alten Konsumenten, alten Verbrauchern, alten Klienten zu tun haben, können an der Universität schon mal den Dialog mit der späteren Zielgruppe üben.

Die Universität werde sich umstellen müssen, so Meyer-Wolters, werde kompakte Seminare abends und am Wochenende anbieten müssen, weil die Arbeitnehmer nicht mehr mit sechzig in den Vorruhestand gehen, sondern im Seminar die neuesten Entwicklungen in Ingenieurtechnik nachlernen müssen. Überhaupt, die Alten seien doch ein Geschenk - wenn auch ein noch weitgehend ungenutztes: "In Köln wollten sie kostenlos in der Bibliothek arbeiten, damit die bis abends geöffnet ist". Die Initiative scheiterte am Personalrat.

© SZ vom 17.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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