Gesellschaft:"Sei froh, dass du Arbeit hast"

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Arbeitslose gegen Arbeitsplatzbesitzer: Von der Angst der Privilegierten und dem Unglück des Nichtstuns.

Johan Schloemann

Privilegien wollen genau beziffert sein. Zum Beispiel auf 1,28 Euro. Das ist der Betrag, der dem Verfasser dieser Zeilen laut Arbeitsvertrag monatlich zusteht, zusätzlich zum Basis-Arbeitslohn, und zwar als Zuschuss zur Begleichung von Kontoführungsgebühren. Wir wissen nicht, wer es war, aber es wird ihn gegeben haben, den Gewerkschaftler, der irgendwann einmal zu seiner geübten Rhetorik der Benachteiligung gegriffen und diese 1,28 Euro als unerlässlich für uns durchgesetzt hat. Ein Markstein der Arbeitnehmerrechte! Das Beispiel zeigt, was aus dem Kampf um die elementare Versorgung der Lohnabhängigen geworden ist: bürokratische Kleinherzigkeit.

(Foto: Foto: ddp)

Oder nehmen wir eine andere Besonderheit: die Pendlerpauschale. Ein nicht sehr eigenwilliger Grundsatz könnte lauten: Dort, wo man arbeitet, dort zieht man auch hin. Versuchen Sie einmal, einem Ausländer zu erklären, dass wir es in Deutschland anders handhaben: Man zieht woanders hin, und je weiter der Weg ist, den man zwischen diesem Woanders und der Arbeitsstelle hin- und herfährt, desto mehr Geld kriegt man dafür vom Staat. Ist das nicht schön?

Wer sich an so etwas gewöhnt hat - und an jede regelmäßige Gabe gewöhnt man sich schnell -, dem war lange Zeit der Blick darauf verstellt, dass die fetten Jahre aus dieser Republik einen Gewerkschafts- und Sozialstaat für die Mittelschicht gemacht haben. Doch die Einhegung wird immer brüchiger. Die Privilegierten können deutlicher als jemals in den Jahrzehnten zuvor durch den Sicherheitszaun hindurchschauen, und sie müssen sehen, dass es auf der anderen Seite, in der Welt jenseits fester Arbeitsverträge, anders zugeht. Sie erkennen, dass es dort längst nicht mehr nur arbeitsunfähige Alkoholiker gibt, die sich mit üppigen Alimenten von der Gemeinschaft ruhig halten lassen. Da bekommen die Privilegierten Angst: Sie, die Arbeit haben, könnten nicht mehr die selbstbewusste Mehrheit bilden, die das Land trägt. Die Arbeitslosen und die Minijobber, die Outgesourcten und die Langzeitpraktikanten sind ihnen keine Empfänger selbstlosen Mitleids mehr. Sie sind Repräsentanten der eigenen Gefährdung.

Nur noch rund 26 Millionen Menschen in Deutschland haben volle sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen. Das ist nicht mehr als ein Drittel der Bevölkerung, und stetig werden es weniger. Die Gewerkschaften haben noch sieben Millionen Mitglieder. Die Zahl der Arbeitslosen dürfte - wie von der Bundesagentur für Arbeit erwartet - in diesem Jahr im Durchschnitt bei 4,8 Millionen liegen. Fast 17 Prozent des Sozialprodukts wird durch Schwarzarbeit, am Sozialsystem vorbei, erwirtschaftet.

Mancher mag es angesichts der allgegenwärtigen Abstiegsanalysen und Ruck-Manifeste kaum noch hören, aber es ist so: Ein wettbewerbsfeindliches System von Lohnkartellen und Sozialfürsorge hat die Inklusion, die es befördern wollte, für Millionen von Bürgern zunichte gemacht.

Manche gründen eine Partei . . .

Und nun machen wirtschaftlicher Wandel und Wachstumsschwäche aus dem Nebeneinander der Gruppen eine Konfrontation. Die absurd starre Trennung zwischen regulären Stellen mit hohen Kosten für den Arbeitgeber auf der einen und dem immer größeren Billig-Sektor auf der anderen Seite macht es für den Einzelnen spürbar: Er merkt, dass aus der vollen Stelle so viel wie möglich herausgeholt werden muss, fühlt sich überlastet - und kennt zugleich überall jemanden, der seine Probleme nur zu gerne hätte.

Das macht den eigenen Boden unsicher. Denn eigentlich wünscht sich der Arbeitsplatzinhaber, dass der Arbeitslose kein Gesicht hat. Er möchte das Problem lieber verdinglichen, es sich vorstellen als den seit den siebziger Jahren wachsenden, so genannten "Sockel" struktureller Erwerbslosigkeit. Als Grafik, wie ein Statistiker: schon schlimm, diese Zahlen. Doch nun bekommen die "Frustrierten" ein Gesicht. Sie gehen auf die Straße, wenn die Alimente knapper werden. Sie werden "Kunden" der Arbeitsvermittlung, auch die vormaligen Sorgenkinder in kommunaler Obhut. Sie haben nicht nur ein Gesicht, sie haben nun auch eine eigene Partei.

Und sie sind auch in den Eliten präsenter. Das Problem der Arbeitslosigkeit war im Westen schon seit Jahrzehnten bedrückend, auch zu Wachstumszeiten, doch nun hat es sich in ungekannter Weise in Akademikerkreise hineingefressen. Dadurch erfährt es stärkere Potenzierung in den Medien, deren Vertreter dort sozialisiert sind. Deswegen hört man so häufig die verschreckte Analyse: Wenn schon hochqualifizierte, flexible Leute keinen Job finden (gemeint ist: Leute wie wir), dann muss die Lage ja wirklich dramatisch sein. Dass die Akademiker nicht das größte Problem sind und immer noch leichter Arbeit bekommen, dass von den Arbeitslosen 37 Prozent gar keine Ausbildung haben, das blenden diese Beschreiber oft aus; und wer will es ihnen verdenken, denn dem brotlosen Kunsthistoriker oder Architekten ist mit solchen Relativierungen auch nicht geholfen.

Globale Konkurrenz und besser sichtbare Massenarbeitslosigkeit erhöhen für den Arbeitsplatzinhaber nicht bloß den politisch-moralischen Druck, dass diesen armen Menschen geholfen wird. Die Pression richtet sich gegen die Beschäftigten selbst, gegen das, was Arbeit bedeutet. In jüngster Zeit haben spektakuläre Fälle der Verlagerung, Schließung oder der Drohung damit, von Opel bis Karstadt, die gewerkschaftlichen Ansprüche auch in ihren klassischen Bastionen entwertet. Überall Lohnkürzung, Mehrarbeit, Tarifflucht. Die alte Kapitalistendrohung, hierzulande überwunden geglaubt, zieht wieder: Da draußen stehen Tausende auf der Straße, die würden deinen Job für die Hälfte machen. Sei froh, dass du Arbeit hast. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Industriebeschäftigten wieder um 1,8 Prozent gesunken.

. . . andere schreiben Bücher

Soziologen und Philosophen versuchen schon seit längerem, uns für eine vermeintliche Überwindung der "Arbeitsgesellschaft" zu rüsten. Kritik daran, den Vollzeitjob zum alleinigen Maßstab zu nehmen, gab es in den achtziger Jahren von Jürgen Habermas. Ralf Dahrendorf fragte auf dem Soziologentag 1982: "Wie bestimmt sich eigentlich die soziale Identität von Menschen, wenn sie sich nicht mehr durch ihren Beruf beschreiben können?"

Vielfach verfolgt man das Ziel, die Dominanz des neuzeitlichen Arbeitsbegriffs aufzubrechen und Lebensweisen, die nicht durch lohnabhängige Arbeit strukturiert sind, "zivilgesellschaftlich" aufzuwerten. Auf verschiedenen theoretischen Wegen gelangen Soziologen wie Ulrich Beck, Michael Opielka und Wolfgang Engler zu der Forderung eines "Bürgergelds", einer "Grundsicherung" - eines Instruments also, das mit der freien Marktwirtschaft, in der Arbeit den "wahren Maßstab des Tauschwerts aller Güter" darstellt (Adam Smith), kaum vereinbar ist.

Dahinter steht der fast etwas hilflos wirkende Antrieb, der letztlich unüberwindbaren Grausamkeit des Gegensatzes zwischen Arbeitenden und Arbeitssuchenden mildernd abzuhelfen. Dem entsprechen auf beiden Seiten kulturelle Aufweichungsambitionen. Dem seriellen Regiment, das im täglichen Gang zur Arbeit besteht, wird individueller Lebenssinn entgegengestellt, schließlich denkt der Arbeitsplatzinhaber nicht unablässig an Geld, Pflicht und seine ökonomische Rolle, sondern auch an Inhalt und Erfüllung.

Das Glück der Arbeit, seit der Aufklärung beschworen, hat seinen Extremtypus in den Glanzzeiten der New Economy gefunden, die notorische Formen der Identifizierung von Leben und Arbeit produziert hat. Eine andere Lösung ist es, als Büroangestellter Tätigkeit nur vorzutäuschen, wie es die Französin Corinne Maier in ihrem Bestseller "Bonjour Paresse" ("Die Entdeckung der Faulheit") vorgeschlagen hat.

Auffällig häufen sich auch die komplementären Vorhaben, das Unglück des Nichtstuns in ein Lob desselben umzumünzen, im Anschluss an die aristokratische Muße der Antike oder an Paul Lafargues Traum vom "Lob der Faulheit" von 1883. Hierher gehört Eberhard Straubs "Vom Nichstun" ebenso wie Alexander von Schönburgs "Die Kunst des stilvollen Verarmens". Oder auch das Buch "Kleine Brötchen: Von den Vorzügen ohne feste Anstellung zu sein" von Achim Schwarze, dem Ex-Marketingchef einer liquidierten Internetfirma, der die Lebenskunstliteratur mit dem Wiedererlernen von Einsichten wie der fortschreibt, dass "das Kaffeehausleben einen besonders hohen Luxuseffekt pro eingesetztem Euro liefert". Auch manche Figur in der jüngeren deutschen Literatur scheint in diese Welt zu passen.

Doch all das riecht ein wenig nach Ästhetisierung des Mangels durch die höheren Stände, die dann doch immer ein paar "Projekte" laufen haben. Ein entlassener Industriearbeiter kann damit nichts anfangen, und die neuen Fronten in der Gesellschaft kann man so auf Dauer nicht verstellen.

© SZ vom 18.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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