Geisteswissenschaftler:Kaum Raum fürs Individuum

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Der juristische und bürokratische Aufwand im Studium muss reduziert werden, fordert Tassilo Schmitt. (Foto: oh)

Pflichtmodule stehen einer persönlichen Auswahl entgegen, kritisiert Tassilo Schmitt.

Interview von Benjamin Haerdle

Der Althistoriker Professor Tassilo Schmitt ist Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentags, der hochschulpolitischen Vertretung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften an den Universitäten. Er resümiert, welche Aspekte Studenten und Professoren der Geisteswissenschaften kritisch sehen.

SZ: Bachelor- und Masterstudiengänge sind mittlerweile nahezu flächendeckend an Deutschlands Universitäten verbreitet. Wie fällt die Bilanz aus Sicht der Geisteswissenschaften aus?

Tassilo Schmitt: Einer der Grundgedanken der Bologna-Reform war richtig, nämlich das Studium nicht nur an der Logik der Wissenschaft auszurichten, sondern auch die Voraussetzungen und die Berufsziele der Studierenden stärker zu beachten. Die Neuorganisation hat aber leider die Ziele nirgends wirklich erreicht und führte überdies zu grotesken juristischen und bürokratischen Übersteigerungen.

Woran machen Sie Ihre Kritik fest?

Alle Prüfungen können von Studierenden angefochten werden, sie müssen deswegen rechtssicher sein. Das bedeutet einen erheblichen Mehraufwand, weil Anmeldungen und Wiederholungen formal standardisiert und bürokratisch organisiert werden müssen. Es ist sehr schwer, auf individuelle Lagen einzugehen. Problematisch ist auch, dass im Bachelor ein breites geisteswissenschaftliches Studium aus Zeitgründen kaum mehr möglich ist. Es gibt viele verpflichtende Module, die belegt werden müssen, sodass man nur selten Veranstaltungen außerhalb der Pflichtfächer besuchen kann.

Früher klagten Studierende über zu wenig Orientierung im Studium. Kann die stärkere Verschulung nicht auch ein Vorteil sein?

Hilfreich sind wohl Leitlinien in großen Fächern wie Germanistik oder Geschichte. In kleinen Fächern hat man sich auch früher sehr gut informell orientieren können. Die zu strikten Lehrpläne werden außerdem dann zum Problem, wenn man in einer Prüfung durchgefallen ist, und Module aufeinander aufbauen, weil individuelle Wege in einem durchregulierten System schwerer zu finden sind.

Wie geht es weiter mit Bologna?

Ein Weg zurück ist nicht mehr möglich. Wir müssen die Studiengänge künftig aber flexibler gestalten. So könnten die Module größer werden und mehr Varianten zulassen. Sicher muss man auch den juristischen und bürokratischen Aufwand im Prüfungswesen reduzieren.

Sind diese Reformen Aufgaben der Hochschule?

Das sollten vor allem die Fakultäten übernehmen. Wir haben keine guten Erfahrungen gemacht, wenn sich Hochschulleitungen oder gar Wissenschaftsministerien gestaltend einmischen. Diese haben oft im Hinblick auf die Studierenden zu abstrakte und im Hinblick auf die jeweiligen Wissenschaften zu wenig sachgemäße Vorstellungen.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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