Dorfschulen:Langsam gehen die Lichter aus

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Bis heute gilt das dreigliedrige System in Bayern als unantastbar. Aber am Kindermangel könnte es zerbrechen.

Birgit Taffertshofer

Nein, der Ort weckt keinen Pessimismus. Übersee stärkt die Menschen mit seinem Wasser, der Sonne und der wunderbaren Landschaft am oberbayerischen Chiemsee. Und Bürgermeister Franz Gnadl ist alles andere als ein Miesepeter. Dennoch weht eine Brise von Untergang ins Schulhaus an der Grassauer Straße, wenn Gnadl über dessen Zukunft spricht: In Übersee werden die Kinder knapp. Im Herbst darf die Schule keine siebte Klasse mehr einrichten - zu wenig Anmeldungen. "Wenn sich nichts ändert", sagt Gnadl, "dann gibt es hier in drei Jahren keine Hauptschule mehr".

Viele Bürgermeister in Bayern plagen diese Sorgen. Die Zahl der Schüler sinkt, weil weniger Kinder geboren werden und Familien wegziehen. Das Kultusministerium erwartet, dass die Zahl der Schüler bis 2020 um 20 Prozent sinkt. Grenznahe Regionen werden sogar bis zu 30 Prozent ihrer Schüler verlieren. Vor allem in Hauptschulen werden die Lichter ausgehen, denn sie leiden unter einem weiteren Abwärtstrend: Die Eltern wenden sich von der in Verruf geratenen Schulform ab, weil sie um die berufliche Zukunft ihrer Kinder fürchten. In den vergangenen Jahren wurden in Bayern etwa 500 Hauptschulstandorte geschlossen, das ist ein Drittel. Nach Schätzungen des Lehrer- und Lehrerinnenverbands könnten in den nächsten zehn Jahren weitere 300 vor dem Aus stehen.

Die Lokalpolitiker protestieren, schicken Petitionen aus Oberfranken, Niederbayern, Schwaben und der Oberpfalz an den Landtag: Vom Erhalt der Schule hänge das Schicksal ihrer Gemeinde ab, schimpfen sie. Beim bayerischen Gemeindetag, dem Spitzenverband für Gemeinden, Märkte und Städte, vergeht inzwischen kein Tag mehr, an dem nicht ein Bürgermeister Rat sucht. Unruhig sind vor allem jene, welche die 350 kleinen Dorfschulen wie in Übersee unterhalten, die schon heute auf eine Klasse pro Jahrgang geschrumpft sind. Aber auch die M-Klassen, also das Angebot der Mittlere Reife in bayernweit 430 Hauptschulen, drohen mangels Schüler immer öfter wegzubrechen.

Wohlgemerkt: In der Volksschule in Übersee bekommen fast alle Jugendlichen noch eine Stelle. Es gibt hier ein Patensystem zwischen älteren und jüngeren Schülern, einen Computerraum und ein Nichtraucherprojekt, für das die Schule bereits ausgezeichnet wurde. Im Landkreis Traunstein landen die Schüler aus der 5000-Einwohner-Gemeinde regelmäßig unter den besten Quali-Absolventen. "Wir stehen gut da", betont Gnadl. Für ihn ist es deshalb auch reine Geldverschwendung, wenn seine Schüler künftig mit dem Bus in den Nachbarort Grassau transportiert werden, zumal da die dortige Schule schon jetzt über Platzprobleme klage. "Es kann doch nicht sein, dass hier bald ein Schulhaus leer steht und andernorts für viel Geld neu gebaut werden muss."

In München hört man die Hilferufe wohl. Kultusminister Siegfried Schneider plant eine Rettungsaktion und will die Hauptschule zu einer stärker berufsorientierten Schule weiterentwickeln. Es soll mehr Ganztagsschulen geben und mehr Freiheit und Eigenverantwortung für die Kommunen. Sie sollen künftig passgenaue Konzepte für ihre Region entwickeln. "Loslassen und zulassen" lautet der vielversprechende Slogan, mit dem der Minister derzeit durch die Lande tourt. Doch Übersee stieß schnell an die Grenzen dieser neuen Freiheit.

Übersee will sich einen pädagogischen Trick zunutze machen, mit dem der Minister die kleinen Grundschulen retten will. Kurzum, Schulleiter Hans Aderbauer will auch für Hauptschüler jahrgangsübergreifende Klassen einrichten. Doch was für die Grundschüler gut ist, schadet offenbar den anderen. Die Absage aus dem Ministerium kam prompt. Es schlägt stattdessen Kooperationen mit Nachbarschulen vor. Jedes Haus solle sich auf ein Profil wie Technik, Wirtschaft oder Soziales spezialisieren. Die Schüler könnten dann zwischen den Schulen pendeln. "Undenkbar", urteilt Aderbauer - nicht vorschnell, sondern nach langer Abwägung mit allen Beteiligten. Würden sich vier Schulen im Achental zusammentun, dann säßen die Kinder schnell eine Stunde im Bus. Gerade im Winter, wenn die Pässe zwischen Reit im Winkl und Übersee verschneit sind.

Im Gegensatz zu anderen Bundesländern tut sich Bayern schwer, die Schulen aus den bürokratischen Fesseln zu befreien. Am deutlichsten zeigt sich das an der Diskussion über das dreigliedrige Schulsystem. In Bayern gilt es nach wie vor als unantastbar. Bundesländer wie Sachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein lassen dagegen auch neue Schulformen zu, sobald sich die Kommunen angesichts des Schülerschwunds nicht mehr anders zu helfen wissen. Die CSU bleibt dabei: Gesamtschulen, gescheitertes Lieblingsprojekt der Sozialdemokraten in den siebziger Jahren, werde es in Bayern nicht geben, und auch keine Zusammenlegung von Haupt- und Realschule. Wer das Schulsystem mit der rigiden Selektion nach der vierten Klasse aufbrechen will, wird hier noch immer als "Gleichheitsromantiker" verhöhnt.

In der fränkischen Kleinstadt Iphofen und mindestens 25 anderen Gemeinden in Bayern wird längst nicht mehr über solche Ideologien gestritten. Hier suchen Lokalpolitiker, egal, welcher Partei sie angehören, nach Lösungen, wie sie ihre Hauptschule und ihre M-Züge halten können. Von der Rettungsaktion des Kultusministers versprechen sie sich nicht viel. Iphofen dringt deshalb wie die hundert Kilometer entfernte Gemeinde Schöllkrippen darauf, künftig an der Hauptschule auch Realschüler unterrichten zu dürfen. Bislang werden diese Anträge freilich rigoros abgelehnt, doch die Bürgermeister wollen nicht aufgeben. "Wir werden jetzt aktiv um Mitstreiter werben", sagt Gnadl, "und jedes Jahr einen neuen Antrag stellen".

© SZ vom 27.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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