Chancengleichheit:Keine Zeit für Kinder

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Eine Studie über den Alltag von Acht- bis Elfjährigen zeigt, dass sich ein Viertel von ihnen benachteiligt fühlt.

Jens Schneider

Es ist ein Paradoxon, das die bedrückende Lage dieser Kinder vielleicht erst richtig deutlich macht. Theoretisch müssten ihre Eltern besonders viel Zeit für sie haben. Zeit dürfte ihr Problem nicht sein. Sie sind arbeitslos oder gehen aus sonstigen Gründen keiner oder nur einer unregelmäßigen geringen Beschäftigung nach. Doch ausgerechnet mehr als ein Viertel der Kinder aus dieser Gruppe klagt, dass ihre Eltern nicht genug Zeit für sie haben - sich nicht genug um sie kümmern.

In diesen Familien fehlten, so vermutet es der renommierte Kinder- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann von der Universität Bielefeld die Strukturen, die Kinder dringend für ihr Leben brauchen. Das ist eine Facette aus einer Lebenswirklichkeit von einem Viertel der Kinder in Deutschland, die nach den Erkenntnissen schon ganz früh mit geringen Chancen leben - und das auch selbst so schon empfinden und ausdrücken. Sie fühlen sich schon im Alter von acht bis elf Jahren für des Rest des Lebens benachteiligt.

Insgesamt 1592 deutsche Kinder aus der Altersgruppe von acht bis elf Jahren sind unter Anleitung von Hurrelmann befragt worden für die Studie " Kinder 2007" im Auftrag des internationalen Kinderhilfswerks "World Vision". Mit dieser Studie hat, so sagt es Hurrelmann nett, die "Shell-Studie", mit der seit Jahren die Haltung von Jugendlichen intensiv erfragt wird, eine kleine Schwester bekommen. Lange Gespräche wurden mit den Kindern geführt, auch ihre Eltern befragt. Die Forscher wollten wissen, wie sie ihr Leben finden, ihre Zukunft sehen, ob sie immer noch zu viel Fern sehen und wie viele Freunde sie haben. Vieles an den Ergebnissen der Studie klingt heiter und beruhigend.

Wenig "Körperliche Züchtigungen"

"Kinder lieben ihre Familie", fasst Hurrelmann ein zentrales Ergebnis zusammen. Sie haben selten Streit mit den Eltern und auch die Häufigkeit der "körperlichen Züchtigungen" sei zurückgegangen. 14 Prozent gaben an, dass sie von ihren Eltern geschlagen werden. Erschreckend viel eigentlich, aber im Vergleich zu früher, so denkt der Wissenschaftler ein großer Fortschritt. Auch die oft beklagte Lage der Kinder von Einwanderern sehen die selbst gar nicht so arg. Sie fühlen sich integriert, werden zu Geburtstagspartys eingeladen.

Und was den ganzen Streit um Betreuung und Elterngeld und Betreuung angeht, ist auch Entspannung zu vermelden: Kinder von Berufstätigen fühlen sich recht wohl damit, auch wenn beide Eltern arbeiten.

Doch was ist das alles gegen eine Erkenntnis, die Hurrelmann und seine Kollegen bei aller Berufserfahrung, die sie mitbringen, erschrecken lässt. Diese Erkenntnis kann man ganz abgebrüht nicht neu finden, hat das Land zuletzt oft gehört und doch nichts damit angefangen. Und doch ist es etwas anderes, sie kommt diesmal von den Kindern selbst. "Die Eindrücklichkeit ihrer Aussagen ist erschütternd", sagt Hurrelmanns Kollegin Sabine Andresen. Man weiß schon lange, dass die soziale Herkunft in Deutschland mehr als anderswo über die schulischen Chancen der Kinder entscheidet. Aber diese Studie zeigt, dass die Kinder sich oft schon als abgeschlagen sehen, bevor es eigentlich losgehen sollte. Während mehr als vier Fünftel aller Kinder aus der Oberschicht - wir reden hier von den acht bis elfjährigen - das Abitur anstreben, sind es bei der Unterschicht nur 21, bei der unteren Mittelschicht 32 Prozent.

Die Vielseitigen und die Medienkonsumenten

Von getrennten Welten spricht Jugendforscher Hurrelmann, "sie können sich nicht vorstellen, wie weit das durchschlägt": Die Studie zeige, dass ein Viertel der Eltern in Deutschland keine gute wirtschaftliche Ausgangsbasis und nicht die nötigen Anregungen bieten könne. Besonders deutlich sehe man das auch an der Freizeit, wo die einen gefördert und angeregt werden mit Sport, Kunst, Musik - sie lesen, ein bisschen sitzen sie auch einmal vor dem Fernseher. Dieses Viertel nennen Hurrelmann und seine Kollegen die Vielseitigen. Das Extrem auf der anderen Seite - auch etwa ein Viertel - nennen sie: die Medienkonsumenten. Wieder sind es vor allem Kinder aus der unteren Schicht, die viele Stunden vor dem Fernseher sitzen, seltener im Sportverein sind und - nur 13 Prozent - kaum von musisch-kulturellen Aktivitäten berichten. Zu den Dauer-Medienkonsumenten zählen vor allem die Jungen aus dieser Schicht.

Überhaupt die Jungs - egal aus welcher Schicht, ihnen fehlt die vielseitige Ausrichtung der Mädchen. Inständig bittet Hurrelmann, dass sich da was ändern müsse, damit auch sie für ihre Entwicklung "endlich auch Dinge machen, die alle ihre Sinne in Anspruch nehmen". Ein geteiltes Land in vielerlei Hinsicht also. Immer noch, oder wieder mehr gilt es auch für die Himmelsrichtungen. Was die Wünsche und Lebenslust der Kinder angeht, haben die Forscher zwischen West- und Ostdeutschland zwar keine Unterschiede ermittelt. Auch im Osten haben sie Kinder mit großer Begeisterungsfähigkeit und Unternehmungslust erlebt - nur dort gebe es viele Kinder, die schon früh in dem Gefühl leben, weniger Chancen und schwierigere Bedingungen zu haben.

© SZ vom 25.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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