Burn-out-Syndrom:Die Müdigkeit der Rastlosen

Lesezeit: 8 Min.

In der Krise hat eine Krankheit Konjunktur: das Burn-out-Syndrom. Begegnungen mit Spezialisten - und mit Menschen, die immer prima funktioniert haben.

Sebastian Beck

Früher oder später hat noch jede Krise Prien am Chiemsee erreicht. Wo der See vor der Klinik Roseneck so ruhig ans Ufer schwappt und die Ausflugsschiffe aufs Frühjahr warten. Der Absatzeinbruch in der Autoindustrie, die Korruptionsaffäre bei Siemens, die dauernden Umstrukturierungen bei der Telekom - sie waren alle schon da. Neuerdings macht sich auch die Rezession bemerkbar, der wirtschaftliche Druck, dem insbesondere die Mitarbeiter von Banken und Versicherungen ausgeliefert sind: Sie müssen jetzt mehr leisten, weil es ihren Konzernen schlechtgeht. Oder die Einsparungen im öffentlichen Gesundheitssystem und deren Folgen: Sie werden hier in Prien gewissermaßen von Markus Schmitt repräsentiert.

Burn-out: Die Krankheit scheint sich epidemisch auszubreiten - obwohl es sie als offizielle Diagnose nicht gibt. (Foto: Foto: iStock)

Wenn der Mann, dessen richtigen Namen wir - wie bei allen hier vorkommenden Patienten - nicht nennen, seine Geschichte erzählt, atmet er zwischendurch immer wieder schwer, was nicht nur daran liegt, dass er in den vergangenen sechs Jahren 40 Kilo zugenommen hat und nun 130 Kilo auf die Waage bringt. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Schmitt zu seiner Entlastung in den Kalender frei erfundene Termine eingetragen oder ist schon mal über den Balkon aus dem Büro abgehauen - ein unkonventionelles Verhalten für einen Personalchef mehrerer ostdeutscher Kliniken mit zusammen 2500 Mitarbeitern. Dabei war Schmitt viele Jahre lang ein erfolgreicher Manager und ein harter Hund, jedenfalls sich selbst gegenüber: Er humpelte sogar mit gebrochenem Bein ins Büro, arbeitete 60 Stunden pro Woche und verbrachte die Feierabende daheim mit Unterlagen und einer Flasche Wein.

Sie können nicht mehr

Aber so sehr er auch schuftete, kämpfte und sich abmühte, irgendwann kam er nicht mehr hinterher: immer neue Einsparungen, Budgetierung, Personalabbau, die Besserwisserei der Krankenkassen und der Geschäftsführung. Und mittendrin Schmitt, der dynamische Personalchef. Ein stattlicher Mann, Ende 50, mit sonorer Stimme, der in Wirklichkeit von Depression und Angst heimgesucht wurde. Im Herbst musste er einem altgedienten Mitarbeiter kündigen. Danach wollte auch Schmitt aufhören und sich vorzeitig pensionieren lassen. Stattdessen aber ließ er sich erst einmal ins Krankenhaus einweisen, in die psychosomatische Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, eines der größten Häuser seiner Art in Deutschland, mit Blick auf Herreninsel und Alpen, belegt mit Patienten wie Schmitt, die eines verbindet: Sie können nicht mehr.

Sie alle leiden unter einer Krankheit, die sich epidemisch auszubreiten scheint, obwohl es sie als offizielle Diagnose nicht gibt. Schmitt und seine Leidensgenossen sind Opfer des Burn-out-Syndroms, einer Ansammlung von gleichermaßen schweren wie diffusen Symptomen der Erschöpfung und des Ausgebranntseins. Ihr Katalog reicht von Rückenschmerzen, Bluthochdruck, Unruhe, Reizbarkeit und Zynismus bis hin zu Schlafstörungen, schweren Depressionen mit Selbstmordgedanken.

Irgendwann kippen sie um

Oft sind es Menschen im mittleren Alter, die wie Personalchef Schmitt spüren, dass sie trotz aller Anstrengung nicht mehr die Leistung wie früher bringen. Aus Angst vor dem Abstieg stecken sie noch mehr Energie in den Beruf, machen Fehler, werden vergesslich, unzuverlässig. Sie regulieren sich morgens mit Kaffee und abends mit Alkohol. Irgendwann kippen sie um. Andere machen schon schlapp, bevor die Karriere überhaupt losgeht: Selbst bei Schülern und Studenten wurde das Burn-out-Syndrom beschrieben.

So müht sich die Wissenschaft vergeblich mit einer allgemeinen Theorie des Ausbrennens ab, seit der Psychoanalytiker Richard Freudenberger 1974 erstmals den Begriff Burn-out einführte, nachdem er an sich selbst die diversen Symptome entdeckt hatte. Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung ist die Zahl der Erklärungsmodelle ins Uferlose gewachsen. Fest steht, dass das Phänomen des Ausbrennens tatsächlich existiert, dass es eine Erscheinung des Industriezeitalters ist und so gut wie jeder daran erkranken kann.

Auf der nächsten Seite: Warum der Begriff Burn-out so inflationär gebraucht wird - und so gut in eine Gesellschaft passt, die immer mehr von Unsicherheit, Konkurrenz und Leistungsdruck bestimmt wird.

Chronische Schlaflosigkeit, Bauchschmerzen, Herzbeschwerden

Maria Egger zum Beispiel, eine 52-jährige Hausfrau aus der Schweiz: vier anstrengende Kinder, ein Mann, der dauernd arbeitet. "Ich bin im Prinzip ein sehr positiver Mensch", sagt sie über sich. Sie hat sich sehr bemüht, all die Jahre lang - auch um ihre Partnerschaft: Nur wenn sie abends mit ihrem Mann einmal ausgehen wollte, bedurfte es zuvor einer logistischen Großleistung. Mit Vergnügen oder Entspannung hatte das wenig zu tun. Dann schlich sich chronische Schlaflosigkeit ein, Bauchschmerzen und Herzbeschwerden plagten sie.

Jetzt sitzt sie seit zweieinhalb Wochen in der Privatklinik Hohenegg, hoch über dem Zürichsee, und lauscht in die Stille. Das Essen sei so gut hier, sagt sie, so liebevoll zubereitet. Nein, ihre Familie vermisse sie noch nicht. Sie wirkt ratlos. Auch Maria Egger leidet an einem Burn-out-Syndrom. Wie Ärzte, Sozialarbeiter, Manager, Journalisten, Künstler, Lehrer, Fluglotsen, Industriearbeiter. Der Hamburger Psychologe Matthias Burisch, der seit 25 Jahren am Burn-out forscht, hat bei einem Spaziergang an der Süderelbe entlang eine weitere gefährdete Berufsgruppe entdeckt: "Ich kann sie nicht mehr sehen. Ich könnte sie alle totschlagen", sagte dort ein Schäfer über seine Herde von 1000 Tieren, was Burisch zu der sarkastischen Frage verleitete: "Wann kommt die Studie über Schäfer-Burn-out?"

Tabletten schlucken, um Stress auszuhalten

So unscharf der Begriff auch sein mag, so inflationär wird er inzwischen gebraucht. Denn er passt nur allzu gut in eine Gesellschaft, die immer mehr von Unsicherheit, Konkurrenz und Leistungsdruck bestimmt wird. Die Krankenkasse DAK veröffentlichte vor kurzem eine Studie, wonach 800.000 Menschen in Deutschland am Arbeitsplatz regelmäßig Tabletten schlucken, um Stress und Konflikte auszuhalten. Seit Jahren steigt die Zahl der Krankschreibungen aufgrund von psychischen Störungen.

Gerade in Krisenzeiten reichen Unternehmen den Druck von oben nach unten zu den Mitarbeitern durch. Wer als schwach gilt, muss fürchten, dass er aussortiert wird. Eine Reparatur-Industrie von Beratern, Coaches und Trainern hat sich speziell um chronisch überforderte Manager herum gebildet. Wellness-Wochen inklusive Wertewandel, Work-Life-Balance-Kurse, Golf-und-Coaching-Reisen oder Online-Beratung im Internet sollen die Entscheidungsträger einsatzfähig halten.

Doch wenn alles nichts nützt, droht am Ende das Burn-out, die gesellschaftlich akzeptierte Edel-Variante der Depression und Verzweiflung, die auch im Moment des Scheiterns das Selbstbild unangetastet lässt: Wer sich selbst als ausgebrannt bezeichnet, der muss schließlich mal gebrannt haben, der hat sich aufgeopfert, der war einmal ein Top-Mann mit Zukunft. Wer im Kampf um Erfolg und Rendite den Heimatschuss bekommt, der darf sich der Anteilnahme sicher ein. Nur Verlierer werden depressiv, Burn-out dagegen ist eine Diagnose für Gewinner, genauer: für ehemalige Gewinner.

Auf der nächsten Seite: Warum die Hemmschwellen vor Psychotherapeuten oder Klinikaufenthalten niedriger sind als noch vor wenigen Jahren.

Diagnose: "Erschöpfungsdepression"

Gerade deshalb sind Ärzte und Psychologen froh, dass der Begriff Karriere gemacht hat, obwohl er mehr verwirrt als erklärt und sogar schon der morgendliche Unwillen beim Aufstehen für manche als Vorzeichen des Zusammenbruchs gilt. Aber die Popularität des Burn-outs hat immerhin dazu beitragen, dass die Hemmschwellen vor Psychotherapeuten oder Klinikaufenthalten niedriger sind als noch vor wenigen Jahren - auch wenn auf dem Überweisungsschein schließlich die Diagnose steht: "Erschöpfungsdepression".

Und dann? Dann macht sich die Leere breit, die lange vom Aktionismus überdeckt war. Sinnlosigkeit. Zukunftsangst. Der Psychiater Toni Brühlmann kennt diese typischen Reaktionen seiner Burn-out-Patienten, wenn ihnen buchstäblich die Stecker aus Handy und Laptop rausgezogen werden. Die Nervosität, den hochtourigen Leerlauf, die erste Konfrontation mit der Ruhe. Regelrechte Entzugssymptome seien das, sagt er. Einige wollen am liebsten von morgens bis abends therapiert werden, weil das Nichtstun ihnen so unproduktiv erscheint. Andere halten es nicht aus und brechen ab.

Als Versager dastehen

Brühlmann ist ärztlicher Direktor in Hohenegg, wo sich Maria Egger gerade von ihrem Familienstress erholt. Auch hier in der Idylle inmitten Wiesen und Wäldern ist die Weltwirtschaftskrise inzwischen angekommen: Kürzlich behandelte Brühlmann einen Unternehmer, dessen Aktienvermögen in Folge der Bankenpleiten von einem dreistelligen auf einen einstelligen Millionenbetrag schrumpfte. Er stand als Versager da, seine Ehe stürzte in die Krise. Der Mann erkannte während seines mehrwöchigen Klinikaufenthalts, dass es auch noch andere Werte gibt als ein Wertpapierdepot.

Eine im Grunde banale Einsicht, die sich Brühlmann öfter wünschen würde. Denn er hat festgestellt, dass immer mehr Menschen in einen Prozess der chronischen Erschöpfung geraten. Eine der Ursachen dafür sieht er in der Gier und im Narzissmus der Leistungsgesellschaft: "Es gibt eine zunehmende Ausrichtung auf sich selbst und auf die Rivalität mit anderen. Versagen hat keinen Platz mehr." Deshalb, glaubt Brühlmann, sei eine moderne Erkrankung wie Burn-out nicht zu trennen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen: Die Finanzkrise zeige doch, dass die Leistungsblase irgendwann platze. "Das System ist krank geworden", sagt Brühlmann, "aber das können wir hier nicht behandeln.

Auf der nächsten Seite: Wie die Patienten das Reden über sich selbst und die eigenen Gefühle lernen.

Verschüttetes Interesse am Nutzlosen

Also therapiert er seine Patienten - mit einer Mischung aus Medikamenten, Ruhe, Gesprächen und Bewegung. Amüsiert beobachtet Brühlmann, wie Manager in der Kunsttherapie wieder ihre kindlichen Seiten entdecken, das verschüttete Interesse am Nutzlosen, am Malen und Formen. Sie können zwar Geschäftsberichte lesen und Konferenzen leiten, aber das Spazierengehen lernen sie erst wieder in Hohenegg.

Und erst recht das Reden über sich selbst und die eigenen Gefühle. Womöglich auch noch vor einer Gruppe - für viele Menschen eine schlimmere Vorstellung als das Jahresgespräch mit dem Chef. Gelaber für Weicheier, aber nichts für Entscheider! Auch Frank Piller hat seine Vorurteile gegen die Psychotherapie gepflegt. Jetzt ist er in der Klinik Roseneck und schwärmt von der Gruppenstunde: "Ich habe festgestellt, dass das eine extrem befreiende Wirkung hat."

Gereiztes Klima

Piller arbeitet als Vertriebschef in einem Industriebetrieb mit 110 Mitarbeitern. Oder besser gesagt: Er hat dort gearbeitet. Seit gut zwei Monaten ist er krankgeschrieben und er weiß noch nicht, ob er dort überhaupt wieder anfangen will. Pillers Firma wurde von einem Konzern übernommen. Seitdem ist nichts mehr wie früher, als zur Not der Chef noch selbst mit anpackte. Jetzt folgt ein Unternehmensberater dem anderen, die neuen Kollegen siezen sich. Das Klima ist gereizt. Piller muss wöchentlich in die Zentrale melden, wie er den Umsatz zu steigern gedenke. Er kann den Umsatz aber nicht steigern.

Piller hat eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie Personalchef Markus Schmitt: Der Job überwucherte sein ganzes Leben. Piller hat über die Jahre heftig zugenommen, das Gleitschirmfliegen aufgegeben. Nachts dachte er mit Grausen daran, wer ihn am Morgen wieder anrufen würde, um sich zu beschweren. "Da war es mir kotzschlecht", sagt er. Schließlich schickte ihn seine Frau zum Therapeuten: Sie hielt es nicht mehr aus mit ihm und seinem Unglück. Wenn Piller aus dem Büro nach Hause kam, musste er sich vor dem Abendessen erst einmal schlafen legen. Danach ging er ins Bett. Die Wochenenden verbrachte er nur noch auf der Couch. Schließlich gab er dem Drängen seiner Frau nach und nahm Hilfe an - ein erster großer Schritt: "Die wenigsten gestehen sich ein, dass sie krank sind. Das gilt als ein Zeichen der Schwäche." Jetzt überlegt Piller, ob er nicht doch kündigen soll, Wirtschaftskrise hin oder her. "Ich bin mittlerweile bereit, auf Geld zu verzichten", sagt er. "Ich bin bereit, alles zu opfern. Wenn es sein muss, kostet es mein Haus, aber mein Leben kostet es nicht."

Das Ziel ist die Rückkehr an den Arbeitsplatz

Eine Kündigung oder eine Frühverrentung als Ausweg aus dem Burn-out - das sind eher die Ausnahmen. Das Ziel der stationären Behandlung in einer Klinik ist die Rückkehr an den Arbeitsplatz: Deshalb haben beispielsweise in Prien Ärzte und Psychologen ein Programm entwickelt, mit dem sie die Patienten aus ihrer passiven und oft auch wehleidigen Haltung herausholen. Denn Burn-out-Patienten sehen sich meist als Opfer widriger Umstände: Sie geben Kollegen, der Gesellschaft, der Firma die Schuld - und übersehen dabei Spielräume für das eigene Handeln. In Prien lernen Patienten deshalb auch, wie sie mit Stress und Konflikten besser umgehen können. Viele von ihnen kommen zur schmerzhaften wie heilsamen Einsicht, dass sie Ansprüche an sich selbst zurückschrauben müssen. Personalchef Markus Schmitt sagt, er habe gemerkt, wie groß sein Bedürfnis nach Anerkennung sei. Dafür schuftete er immer bis zum Umfallen.

Nur ein paar Tage noch, dann wird er wieder in seinem Büro sitzen. Glücklich sieht er nicht aus. Die Arbeitsbelastung in öffentlichen Krankenhäusern sei katastrophal, sagt Schmitt. Was kann er schon dagegen machen? In Zukunft will er "stopp" sagen, wenn ihm wieder alles über den Kopf zu wachsen droht. Das hat er sich zumindest fest vorgenommen. Ein Psychotherapeut soll ihm dabei helfen. Den Antrag auf Frührente stellt er nun doch nicht. Schmitt will weitermachen. Seine Karriere soll ein gutes Ende nehmen.

© SZ vom 14.3.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: