Mathematik an der Schule oder an der Uni, das sind zwei vollkommen verschiedene Welten", sagt Marie Lohmüller. Die 23 Jahre alte Oberbayerin studiert an der Uni München Mathematik für das Lehramt. Weil sie ahnte, wie anspruchsvoll das sein würde, hat sie noch vor Beginn des ersten Semesters einen sogenannten Brückenkurs besucht. Der dauerte zwei Wochen. Kosten: keine. "Viele Studierenden glauben, ein Mathematikstudium sei so ähnlich wie Mathe in der Schule, nur komplizierter - das stimmt nicht", sagt Stefan Ufer. Er ist Professor für Mathematik-Didaktik und hat die Brückenkurse an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität mit entwickelt. In der schulischen Mathematik stehe die Anwendung von Wissen im Vordergrund, an der Universität eine wissenschaftliche Theorie. Was dieser Unterschied für das Studium bedeutet, diskutiert er auch mit den Erstsemestern in seinen Brückenkursen.
So gut wie alle Hochschulen in Deutschland bieten noch vor Studienbeginn Vor- oder Brückenkurse an - man könnte auch Nachhilfekurse dazu sagen. In diesen kostenfreien Lektionen können Studienanfänger ihr Wissen in Fächern wie Mathematik, und Informatik auffrischen, aber auch in naturwissenschaftlichen Fächern, zu denen Physik, Biologie und Chemie gehören. Es gibt auch speziell auf die Studienfächer zugeschnittene Vorkurse, etwa Mathematik für Mediziner. Auch in anderen Kursen können sich künftige Hochschüler auf die Uni vorbereiten: Im Angebot sind zum Beispiel Aktzeichenkurse für Designstudenten oder Deutsch für ausländische Studenten.
Jeder kann teilnehmen. Besonders hoch ist die Nachfrage bei Maschinenbau-Anfängern
In einigen Hochschulen ist so ein kostenfreier propädeutischer Kurs schon seit Jahren Standard. An der TU Dresden zum Beispiel können Erstsemester bereits seit zwei Jahrzehnten noch vor dem Studienbeginn ihre Grundkenntnisse auffrischen. Neben Mathematikstudenten büffeln auch künftige Maschinenbauer, Verfahrenstechniker, Wirtschaftswissenschaftler sowie Lehramts- und Medizinstudenten ein bis zwei Wochen, bevor das eigentliche Studium startet. Die Nachfrage ist hoch - bei den Maschinenbau-Studienanfängern etwa bei 30 Prozent. Kommen können alle, eine Prüfung gibt es nicht.
Von den Mathe-Studienanfängern in München besucht etwa die Hälfte die Brückenkurse bei Professor Ufer und seinen Kollegen. Eingeführt wurden diese Veranstaltungen im Jahr 2008 - Grund war unter anderen die hohe Abbrecherquote, gerade in den ersten Semestern Mathematik. Laut einer in diesem Jahr erschienenen Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) gibt jeder zweite Studierende sein Mathestudium auf, in den anderen Mint-Fächern ist es jeder Vierte. Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
"Viele Studienanfänger wissen nicht, was im Studium auf sie zukommt", beschreibt Julia Sommer, Koordinatorin des Kompetenzzentrums Naturwissenschaften im Bund-Länder-Programm "Starker Start ins Studium" an der Goethe-Universität Frankfurt, den Kern des Problems. Auch diese Uni offeriert Brückenkurse, vor allem in Mathematik. "Die Lehrpläne der Schulen haben sich durch die verkürzte Gymnasialzeit verändert", sagt Sommer. So seien in einigen Bundesländern beispielsweise Wahrscheinlichkeitsrechnung und Exponentialfunktionen aus dem Lehrplan gestrichen worden. In den Brückenkursen würden diese Themen nachgeholt. E-Learning-Kurse ergänzen die Angebote.
"Mathematik ist für viele das Nadelöhr", sagt Stephanie Grabowski, die bei der Hochschulrektoren-Konferenz (HRK) als Projektreferentin Ingenieurwissenschaften arbeitet. Die Lehrenden an den Unis stellten oft fest, dass die Kenntnisse ihrer Studenten nicht ausreichen. Wäre es nicht sinnvoller, gleich enger mit den Schulen zusammenzuarbeiten und deren Lehrpläne auf die Universitäten abzustimmen? "Wünschenswert wäre das, aber bislang ist man da noch am Anfang", sagt Grabowski. Bisher hat Baden-Württemberg mit dem Vorzeigeprojekt Cooperation Schule-Hochschule (COSH) eine Vorreiterrolle: Bei dem Projekt setzt sich eine Arbeitsgruppe für eine bessere Kooperation zwischen beruflichen Schulen und Fachhochschulen ein.
Stephanie Grabowski nennt ein weiteres Argument für Brückenkurse und mehr Unterstützung durch die Hochschulen in der Studienanfangsphase: "Besonders in den Ingenieurwissenschaften ist die Zusammensetzung alles andere als homogen", sagt sie, "Wir haben nicht mehr nur die 18- oder 19-jährigen Abiturienten, sondern auch Studienanfänger, die sich bereits beruflich qualifiziert haben und bei denen die Schulzeit länger zurückliegt. Und es gibt viele sogenannte Bildungsaufsteiger mit Migrationshintergrund."
Die Zeiten seien vorbei, in denen Hochschulprofessoren darauf stolz gewesen seien, nur die Besten zum Abschluss zu bringen und die anderen sozusagen herauszuprüfen, stellt Andreas Ortenburger fest. Er forscht im Auftrag des DZHW zur Studienzufriedenheit. "Nicht jeder, der im ersten Semester Mathe versagt, ist automatisch für ein Studium nicht geeignet", sagt Ortenburger. Der Fachkräftemangel und der demografische Wandel hätten dazu geführt, dass man in der Hochschulpolitik umdenke. Ein Beispiel dafür sei das Bundesprogramm Qualitätspakt Lehre, das für bessere Studienbedingungen und mehr Qualität sorgen soll. Etwa zwei Milliarden Euro gibt der Bund aus, um insgesamt 186 Hochschulen bundesweit zu fördern.
Mentoringprogramme in der Studienzeit sollen dazu beitragen, die Abbrecherquoten zu senken
Mit Geld aus dem Qualitätspakt Lehre hat zum Beispiel die Fachhochschule Dortmund nicht nur freiwillige Vorkurse in kritischen Fächern wie Mathematik, Physik und Informatik eingerichtet, sondern außerdem verpflichtende Studienstandsgespräche. Darin wird ermittelt, wie ein Student vorankommt. Ebenfalls Pflicht sind die Mentoring-Programme und die digitalen Studienlogbücher, die die Hochschule eingeführt hat. Ein solches Logbuch enthält alle wesentlichen Informationen zum Leistungsstand, dort werden auch die Studienstands- und Mentoringgespräche eingetragen. Elf Professoren arbeiten allein in diesem Bereich. "Es funktioniert", sagt Projektleiterin Gabriele Kirschbaum. "Unsere Evaluationen haben ergeben, dass sich die Leistungen der Studierenden, die an den Kursen und Tutorien teilgenommen haben, verbessert haben", zieht sie Bilanz.
Modelle, die auch über die Vorstudienphase hinausgehen, scheinen am erfolgversprechendsten zu sein. "Brückenkurse dauern ja nicht sehr lang, in so einer Zeit können nicht alle Defizite beseitigt werden", sagt Andreas Ortenburger. Er plädiert für eine Begleitung der Studierenden auch über die Eingangsphase hinaus. "Ziel unserer Brückenkurse ist es außerdem, die Studierenden in Bezug auf Lern- und Arbeitsstrategien für das Studium fit zu machen", erläutert Stefan Ufer von der Münchner LMU. Die Universität Regensburg hat das Münchner Modell übrigens schon vor ein paar Jahren in Zusammenarbeit mit Ufers Leuten durchgeführt und übernommen. Andere Hochschulen wollen nachziehen.