Der Pädagoge und Physikingenieur Martin Mertens engagiert sich seit 30 Jahren für Produktionsschulen und ist Mitbegründer der Kasseler Einrichtung Buntstift, die seit 1992 existiert. Seit 2010 ist Mertens auch Vorsitzender des Bundesverbands Produktionsschulen.
SZ: Welche Aufgaben nimmt der Verband wahr?
Martin Mertens: Wir wollen mit unserer Arbeit den Produktionsschulen einen qualitativen Rahmen mit wissenschaftlichem Hintergrund geben, um sie weiterzuentwickeln und die Expansion des Konzepts voranzutreiben. Deshalb haben wir ein Qualitätssiegel entwickelt. Es dient auch dazu, einen Standard für die Produktionsschulen zu etablieren. Das Siegel weist die Produktionsschule als nachhaltige Einrichtung aus, die Teil des Ausbildungssystems für individuell und sozial benachteiligte Jugendliche ist. Nicht alle, die seelisch belastet sind, sind auch intellektuell überfordert. Viele können durch pädagogisch fundierte Zwischenschritte ihr Ziel erreichen. Wichtig ist dabei: Wir brauchen Partner - bei den Wohlfahrtsverbänden und anderen sozialen Einrichtungen, Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie in der Politik.
Wie hoch ist der Bedarf an Förderangeboten für Jugendliche ohne Schulabschluss und Ausbildungsplatz?
Wir hatten zu Höchstzeiten Ende der 2000er-Jahre fast 450 000 Jugendliche in Deutschland im Übergangssystem von der Schule in den Beruf. Dazu zählen die Berufsvorbereitungen in den Schulen, Fördermaßnahmen der Arbeitsagentur mit freien Bildungsträgern sowie die kommunalen Jugendberufshilfen. Diese Zahl ist sicherlich deutlich gesunken. Doch wir können davon ausgehen, dass zukünftig 200 000 Leute jährlich im Übergangssystem nachhaltig versorgt werden müssen. Berücksichtigen müssen wir ja auch die große Gruppe der jungen Zugewanderten. Für sie braucht es einen festen Platz.
Die Produktionsschulen können das nicht allein stemmen. Über welche Kapazitäten verfügen sie?
Unsere Zielgruppe umfasst 30 000 bis 40 000 Jugendliche. Wir haben heute in 200 Schulen durchschnittlich 8000 Jugendliche. Diese bleiben in der Regel ein Jahr. Allerdings gibt es bei vielen Produktionsschulen die Möglichkeit, die Zeit flexibel auszudehnen, falls es individuell erforderlich ist. Manchmal brauchen Jugendliche ein halbes Jahr länger, bis sie es gebacken kriegen. Was nicht heißt, dass wir alle zum Erfolg führen. Auch bei uns scheitern Leute. Wichtig ist dann, eine gute Übergabe zu machen, damit sie nicht verloren gehen. Wir sind keine Verwahranstalt.
Warum sind die Angebote so heterogen ?
Wir haben eine große Bandbreite an Produktionsschulen in Deutschland. Es gibt öffentliche und private Träger, aber auch Berufsschulen, die Produktionsschulen betreiben. Das erklärt sich aus der jeweiligen Tradition, und die ist etwa in Norddeutschland ganz anders als im Süden. In Bayern zum Beispiel gibt es Jugendwerkstätten, die sich aus der Sozialpädagogik entwickelt haben, aber auch nach dem Produktionsschul-Prinzip arbeiten. In Hamburg läuft das Konzept über die Schulbehörde.
Weshalb benötigen Produktionsschulen Fördermittel?
Eine Produktionsschule kann ihren Betrieb nicht allein über die eigenen Erlöse bezahlen. Für diese Bildungsaufgabe ist eine öffentliche Finanzierung notwendig. Viele Länder finanzieren ihr Konzept mit Kommunen und wählen Träger aus, die dann gefördert werden. Teils stammen diese Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds. Unser Wunsch für die Zukunft ist eine fünfzigprozentige Steuerfinanzierung vom Bund; der Rest soll von Ländern und Kommunen aufgewendet werden. Wir wollen weg von den Fördermitteln der Arbeitsagentur und der EU. Die Zuständigkeit im Bildungsbereich liegt ja bei den Ländern. Diese sollen Produktionsschulen unter starker fachlicher Einbindung der Kommunen am jeweiligen Ort als Teil des Ausbildungssystems verankern. Es braucht dazu nicht mehr Mittel, die Ressourcen sind da und könnten zentral vom Bund gestellt werden. Das ist in vielen Förderprogrammen auch schon so angelegt, etwa in Mecklenburg und in Hessen.