Jörg Dräger, 51, ist Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung für die Bereiche Bildung und Integration sowie Geschäftsführer des CHE Centrums für Hochschulentwicklung. Dräger erklärt, welche Hindernisse hierzulande für die digitale Lehre bestehen, und wie man vorgehen sollte, damit sie die Lernmöglichkeiten verbessert.
SZ: In wessen Verantwortung liegt es, Hochschulstrategien für das digitale Zeitalter zu entwickeln?
Jörg Dräger: In der Verantwortung der Hochschulen und innerhalb derer in den Präsidien. Viele Professoren engagieren sich bereits für digitale Bildung. Nun muss der Schritt hin zur institutionellen Verankerung getan werden. Jede Hochschule braucht einen Verantwortlichen im Präsidium oder Rektorat, der dafür sorgt, dass digital normal wird.
Zu wenig Geld für Investitionen, zu hohe Regelungsdichte, über füllte Lehrveranstaltungen. Die Hochschulen schieben den Schwarzen Peter dafür, dass die Digitalisierung nur langsam voranschreitet, der Politik zu: Was sagen Sie dazu?
Zunächst muss man an den Hochschulen überlegen, welches Problem man mittels Digitalisierung lösen möchte. Will man der Vielfalt der Studierenden gerecht werden? Möchte man mehr Studierende aus aller Welt anziehen? Oder flexiblere Modelle auch online anbieten, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Job mit dem Studium zu ermöglichen?
Die Hochschulen sagen: Wir wollen alles gleichzeitig erreichen.
Wenn man alles gleichzeitig macht, macht man leider oft nichts richtig. Es fehlt häufig ein klares Profil und Konzept, eine zielorientierte Strategie. Digitalisierung ist schließlich kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zu einem bestimmten Zweck. Aber zurück zu Ihrer Frage: Ja, in Teilen mangelt es an Investitionen in Hard- und Software. In Teilen auch an einem adäquaten rechtlichen Rahmen: Wie veranschlagt man zum Beispiel das Lehrdeputat für eine digitale Vorlesung, die - einmal produziert - mehrfach angeboten werden könnte? Der Erstaufwand ist immer riesig. Für die Professoren stellt sich dann die Frage, ob sich das lohnt.
Of t hört man, die Studierenden wollten gar nicht so viel Digitales. Eine Ausrede der Hochschulen oder stimmen Sie zu?
Bei einer guten Vorlesung sind die Studierenden zufrieden, ob sie nun persönlich vorgetragen wird oder digital daherkommt. Bei einer schlechten Vorlesung sind sie sauer, egal, ob der Professor leibhaftig vor ihnen stand oder sie ihn auf dem Monitor gesehen haben. Es ist falsch, bei der Digitalisierung schwarz-weiß zu denken. Es geht ja nicht darum, den Studierenden zu sagen: Nun lernt ihr alles nur noch am Rechner. Es geht darum, digitale Elemente in den Unterricht zu integrieren. Manches wird inzwischen von Studierenden ganz selbstverständlich erwartet. Zum Beispiel, dass die Skripte elektronisch verfügbar sind. Aber erst mal hängt es am pädagogischen Konzept.
Worin bestehen grundsätzliche Unterschiede zwischen Deutschland und anderen Ländern?
Deutschland kann sich glücklich schätzen, dass die Hochschulen nicht unter einem derartig hohen Kostendruck stehen wie in den USA. Dort werden günstigere Wege der Lehre gesucht, und die sind in Teilen digital. Zudem haben wir kein Zugangsproblem, wie es in vielen Schwellenländern gang und gäbe ist. Wenn es zu wenige Studienplätze gibt, sucht man dort eben online nach Alternativen. Bei uns besteht die Herausforderung darin, mit der Heterogenität zurechtzukommen. An unseren Hochschulen gibt es eine große Vielfalt an Studierenden mit unterschiedlichen Ausgangslagen, Fähigkeiten und Interessen. Diesen allen, und zwar jeder und jedem auf seine Weise, muss die Hochschule gerecht werden, wenn sie ihren Bildungsauftrag verantwortungsvoll erfüllen will. Eine anspruchsvolle pädagogische Aufgabe.
Ist das Ziel der individualisierten Hochschulbildung nicht zu hoch gegriffen?
Überhaupt nicht - und zwar dank der Digitalisierung. Was in der Werbung und in den sozialen Netzwerken funktioniert, nämlich die individuelle Ansprache der Nutzer mit bedarfsgerecht zugeschnittenen Angeboten, das funktioniert auch im Bereich der Bildung. Bei zwölf Studierenden kann ein guter Lehrer ohne Weiteres einen individuellen Lernplan für jeden ausarbeiten. Aber für 300 Studierende ist das unmöglich. Dem Rechner hingegen ist es egal, ob es zwölf oder zwölfhundert sind. Das ist der große Mehrwert der Digitalisierung: Dank Algorithmen und Künstlicher Intelligenz kann auf individuelle Lernbedürfnisse besser eingegangen werden.
Wäre es hilfreich, wenn sich die Hochschulen stärker austauschen würden, anstatt dass jede für sich das digitale Rad neu erfindet?
Die Hochschulen tauschen sich bereits aus. Das Hochschulforum Digitalisierung beispielsweise versteht sich dafür als Plattform. Das funktioniert gut. Darüber hinaus wählen wir jedes Jahr sechs Hochschulen aus, die wir intensiv im Hinblick auf die Digitalisierung beraten. Ungefähr 100 Hochschulen haben sich dafür beworben, doch wir können leider nicht allen bei der Strategieentwicklung zur Seite stehen. Das Land Baden-Württemberg hat deswegen ein eigenes Landesprogramm aufgelegt und bietet seinen Hochschulen eine zusätzliche Beratung an.
Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg treiben die digitale Lehre stärker voran als andere Bundesländer. Wird die Aufgabe nicht überall als gleich relevant angesehen?
Nein. Das liegt eben auch am politischen Willen.