Beruflicher Neustart:Neustart mit klaren Zielen

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(Foto: Stefan Dimitrov)

Immer mehr Menschen um die 40 studieren nochmal. Sie streben nach einem sicheren, besser dotierten Job. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.

Von Anne-Ev Ustorf

Wenn Andrea Behrens an die Uni geht, muss sie gut planen. Bevor sie in die S-Bahn steigt, überlegt sie immer noch mal kurz: der Zehnjährige? Wird von der Nachbarin mit vom Hockey zurückgenommen. Der Sechsjährige? Geht um 16 Uhr das kurze Stück vom Hort alleine nach Hause. Die Zweijährige? Wird gegen drei Uhr von der Oma aus der Kita abgeholt. Drei Kinder und ein Vollzeitstudium sind nicht leicht unter einen Hut zu bekommen, erst recht, wenn viele Lehrveranstaltungen am Nachmittag stattfinden - wie aktuell die Ringvorlesung "Einführung in die neue deutsche Literatur", die die dreifache Mutter besuchen muss, um im nächsten Semester an der Universität Hamburg das entsprechende Aufbauseminar belegen zu können. Zunächst arbeitet sie auf einen Bachelorabschluss in Erziehungswissenschaften mit Nebenfach Germanistik hin. "Ohne die Oma würde es nicht gehen", sagt die 40-Jährige knapp. Trotz aller Bemühungen um Familienfreundlichkeit ist die Universität Hamburg - wie wohl die meisten anderen deutschen Universitäten - noch längst nicht eingestellt auf die neue Zielgruppe, die da an die Universitäten drängt: Frauen und Männer ab Mitte dreißig, die bereits Familie haben und sich in ihrer Lebensmitte noch mal weiterbilden wollen. Es sind gar nicht so wenige: Wenngleich das Durchschnittsalter der Studenten seit Einführung des zwölfjährigen Abiturs und der Umstellung auf das Bachelorsystem beständig sinkt - mittlerweile liegt es bei 24,4 Jahren - steigt zugleich der Anteil der älteren Studierenden: Bundesweit zählt das Statistische Bundesamt mittlerweile 128 000 Studenten zur Gruppe der mindestens 37-Jährigen. "In jedem meiner Seminare sitzen ein bis zwei Leute, die in einer ähnlichen Lebensphase wie ich stecken", hat auch Andrea Behrens beobachtet. "Und die meisten von ihnen haben schon eine Menge Berufserfahrung."

Früher studierten Arbeitnehmer allenfalls berufsbegleitend an Fernhochschulen oder absolvierten MBAs oder Promotionen, um ihren Karrieren zusätzlichen Anschub zu verleihen. Heute sitzen Erzieher, Physiotherapeuten, Journalisten, Architekten oder Theologen um die vierzig in Seminaren an Präsenzuniversitäten, um beruflich noch mal durchzustarten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Manche ziehen in der Mitte ihres Lebens Bilanz und überlegen, wie es beruflich weitergehen soll. Noch weitere zwanzig oder eher dreißig Jahre im alten, schlecht bezahlten Job? Dann also lieber noch mal studieren und dafür in der zweiten Lebenshälfte ein befriedigenderes Berufsleben mit mehr Sicherheit führen? "Wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklung", erklärt Professor Lutz Hoffmann, der an der staatlich anerkannten FOM Hochschule in Essen das Projekt "Erfolgreich studieren 40 plus" leitet. "Aller Voraussicht nach wird der Trend zum Studieren ab vierzig in den nächsten Jahren aber deutlich zunehmen. Momentan liegt der Anteil der Studierenden, die 40 Jahre und älter sind, zwar noch bei circa einem Prozent, wir rechnen aber damit, dass dieser Wert in den kommenden zehn Jahren auf fünf bis zehn Prozent ansteigt."

"Ältere haben in der Regel eine bessere Frustrationstoleranz und Reflexionsfähigkeit"

Die meisten älteren Studierenden, die sich an Präsenzuniversitäten fortbilden, studieren allerdings nicht ins Blaue hinein, sondern haben klare Ziele vor Augen und bringen meist bereits relevante Berufserfahrung mit. Andrea Behrens etwa merkte nach der Geburt ihres dritten Kindes, dass sie schlichtweg keine Lust mehr hatte, in ihren schlecht bezahlten Job als Erzieherin zurückzukehren: Sie entschied sich stattdessen, Vorschullehrerin an einer Hamburger Grundschule zu werden, eine qualifiziertere und damit deutlich besser bezahlte Stelle. Dafür braucht sie jedoch einen Studienabschluss in Sozialpädagogik oder Pädagogik, ihr Ziel ist nun der Master in Erziehungswissenschaften. "Ich nutze meine dritte Elternzeit, um mich entlang meiner Interessen und Erfahrungen weiterzubilden", sagt sie, "und ich empfinde mein Studium als wirklich bereichernd. Es ist halt nur anstrengend, Familie, Studium und Job unter einen Hut zu bekommen." Denn sie arbeitet nach wie vor fünf Stunden die Woche im Vorschulbereich ihrer alten Kita. Auch die meisten ihrer gleichaltrigen Kommilitonen kommen aus unsicheren oder schlecht bezahlten Branchen: Da ist Katharina, die freie Journalistin, die langfristig als Deutschlehrerin ins gymnasiale Lehramt wechseln möchte. Stefan, der Physiotherapeut, der Pädagogik mit dem Berufsziel Kinder- und Jugendpsychotherapeut studiert. Oder Ayşe, auch Erzieherin, die Grundschullehrerin werden möchte. Alle haben Kinder und arbeiten nach wie vor in ihren alten Berufen.

Doch wie realistisch ist der Plan, mit vierzig noch mal neu starten zu wollen? Roger Henrichs, Geschäftsführer der Hamburger Personal- und Unternehmensberatung 2-Coach, beschreibt eine berufliche Umorientierung als einen "mühevollen und von vielen Rückschlägen begleiteten Weg". Dennoch rät er nicht davon ab. Denn am Ende sei eine Umorientierung meist mit Gefühlen von großer Zufriedenheit und Stimmigkeit verbunden. Zudem hätten ältere Arbeitnehmer heute deutlich bessere Chancen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Denn viele Arbeitgeber wüssten die Potenziale älterer Mitarbeiter wieder zunehmend zu schätzen. "Ältere Mitarbeiter verfügen in der Regel über ein hohes Leistungs- und Verantwortungsbewusstsein, aber nicht unbedingt über hohe Karriereambitionen", erklärt Henrichs, der auch in der Unternehmensberatung tätig ist. "Ältere haben in der Regel außerdem eine bessere Frustrationstoleranz und Reflexionsfähigkeit. Und das macht sie - ganz zu schweigen von ihrem hohen Fachwissen - zu attraktiven Mitarbeitern."

Auch Andrea Behrens ist optimistisch, dass sie viel zu bieten haben wird. "Ich habe Berufserfahrung, eigene Kinder und eine große Portion Gelassenheit", sagt die 40-Jährige. "Warum sollte mich nach meinem Abschluss niemand wollen? Das Beste ist: Schwanger werde ich auch nicht mehr."

© SZ vom 09.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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