Benimm-Unterricht:Wie man richtig Spagetti isst

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Mit Anstandslehrerin und Altbundespräsident, Werteoffensiven und Kopfnoten - Schüler sollen wieder Manieren lernen.

Nina von Hardenberg

Die Spagetti hängen dem Jungen in gelben Fäden aus dem Mund. Sie ähneln den gelben Lichtstrahlen, die in dicken Filzstiftstrichen von der Lampe bis zum Küchentisch führen, an dem der gierige Esser sitzt. Die siebenjährige Lisa hält das Bild energisch in die Höhe, damit es alle sehen können. "Das ist schlechtes Benehmen", sagt sie und schaut ernst in die Runde. "Man soll nicht mit der Hand essen." Von ihren Mitschülern wagt keiner zu widersprechen, und die Lehrerin nickt stolz. Nur der ehrwürdige Mann, dem die junge Künstlerin ihr Bild erklären soll, lacht vergnügt. "Isst Du gerne Spagetti?", fragt Richard von Weizsäcker freundlich.

Der ehemalige Bundespräsident hat an diesem Nachmittag in Berlin einen besonderen Erziehungsauftrag: Er soll mit den Schülern der Marzahner Grundschule "Unter dem Regenbogen" über gutes und schlechtes Benehmen reden. Die Kinder haben auf diesen Moment hingearbeitet und Bilder mit Benimm-Szenen gemalt. Auch Anstandslehrerin Sonja Hoy ist gespannt. Die altmodische Dame erhofft sich viel von dem Eindruck, den der vornehme Politiker auf ihre Schützlinge machen wird.

Hoy ist so etwas wie eine selbsternannte Sittenhüterin der Berliner Schulen. Immer weniger Schüler kennen die richtigen Tischmanieren oder wissen, höflich miteinander umzugehen, stellte die pensionierte Englisch- und Deutschlehrerin eines Tages fest. Seither hat sie der um sich greifenden Sittenlosigkeit den Kampf angesagt und spannt dabei gerne auch Politiker für ihre Anstands-Seminare ein, die sie mal während, mal außerhalb der Unterrichtszeiten anbietet. Viele Schulen machen davon inzwischen dankend Gebrauch.

Verlorene Werte

Denn Benimm ist wieder in. Eine Untersuchung des Allensbach-Instituts im März 2006 ergab, dass Eltern wieder mehr Wert auf gute Umgangsformen ihrer Kinder legen. Nannten junge Eltern 1991 noch "sich durchsetzen und sich nicht so leicht unterkriegen lassen" als das wichtigste Erziehungsziel, so steht in der neuen Studie "Höflichkeit und gutes Benehmen" an erster Stelle.

Doch auch die Kinder selbst wünschen sich offenbar klare Regeln. "Wir erleben eine Rückbesinnung auf scheinbar verlorene Werte wie Fleiß, Ordnung und Etikette", sagt Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Während in den neunziger Jahren das Streben nach Selbstverwirklichung die Jugend antrieb, seien jetzt auch die Regeln der Großelterngeneration wieder wichtig. "Werte sind immer auch Ausdruck einer Sehnsucht nach dem, was fehlt", erklärt der Leiter der Shell-Jugendstudie diesen Trend. Die jetzt heranwachsende Generation merke vor allem, dass es für sie auf dem Arbeitsmarkt schwieriger werde. Regeln könnten da ein Gefühl von Sicherheit geben und den eigenen Platz in der Gesellschaft bestätigen.

Allerdings gilt diese Beobachtung gewiss nicht für alle Jugendlichen. Während vor allem Mädchen sich wieder konventioneller orientieren, entwickelt sich auch das andere Extrem: Eine von perspektivlosen Jungen angeführte Jugendkultur, die jede Regel ablehnt. Diese zweite Gruppe der Störenfriede und Rowdys hatte der saarländische Kultusminister Jürgen Schreier (CDU) im Sinn, als er vor zwei Jahren eine Werte-Offensive an den Schulen startete. Er beauftragte eine Kommission aus Eltern, Kindern und Soziologen, Lehrmaterialien zum "Benimm an der Schule" zu entwickeln. Das dicke Ringbuch mit dem Titel "respekt & co" ist seither Pflichtstoff in allen dritten und vierten Klassen im Saarland.

"Wenn Menschen freundlich und höflich miteinander reden, wird das Leben leichter und schöner", heißt es ermutigend in der Einleitung. Es folgt eine Sammlung erzieherischer Aufgaben, unter ihnen ein Fragebogen, der spielerisch die Macht der Zauberwörter "bitte" und "danke" erklärt. "Die Resonanz war und ist heute noch groß", sagt Schreier. Hamburg etwa will die Materialien übernehmen. Studien, die deren Erfolg bewerten, gibt es aber noch nicht.

Knigge hilft nicht

Auf Unterrichtseinheiten zum Thema Benimm will sich der Berliner Bildungssenator Klaus Böger (SPD) allein nicht verlassen. Seine Behörde hat auf den Berliner Zeugnisvordrucken wieder die so genannten Kopfnoten eingeführt. Seit dem Winterzeugnis 2005/06 können Lehrer Tugenden wie Zuverlässigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Teamfähigkeit bewerten. "Die Informationen über das Arbeits- und Sozialverhalten helfen Schülern und Eltern, Defizite in diesen Bereichen zu erkennen", begründet der Bildungssenator sein Projekt. Allerdings sind die Schulen nicht verpflichtet, die Kopfnoten zu vergeben.

Doch was sind die richtigen Benimm-Regeln? Darüber sind sich auch die Erwachsenen nicht immer einig. "Das verändert sich ständig", sagt Inge Wolf, die Vorsitzende des Arbeitskreises "Umgangsformen International", eines Zusammenschlusses von 21 Etikette-Experten, der regelmäßig neue Empfehlungen zu richtigem Verhalten veröffentlicht. Tatsächlich hilft das traditionelle Benimmbuch Knigge wenig bei der Frage, wo man mit dem Handy telefonieren darf und wo nicht.

Auch der Umgang zwischen Mann und Frau entspricht längst nicht mehr den tradierten Regeln. Denn diese stammen aus einer Zeit, in der sich der Status der Frau nach der Position des Mannes richtete. So sei es früher selbstverständlich gewesen, dass alle anwesenden Männer aufstanden, wenn eine Frau den Raum betrat, sagt Wolf. Diese Geste würde heute nur noch im privaten Umgang praktiziert - wenn überhaupt.

Die Kinder der Marzahner Grundschule "Unter dem Regenbogen" stehen nicht auf, als der Altbundespräsident den Raum betritt. Doch Richard von Weizsäcker scheint diese Feinheit der Etikette auch nicht zu erwarten. "Als das erste Mal einer im Bus für mich aufgestanden ist, habe ich mich richtig alt gefühlt", erzählt er ihnen, und dann verwirrt er sie mit weiteren Details zur Spagetti-Frage: Er spricht von fernen Ländern und anderen Sitten, von Japan zum Beispiel, wo die Menschen Nudeln aus einem Napf schlürfen und dabei laut schmatzen. Die Realität ist eben komplizierter als alle Regeln.

© SZ vom 22.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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