Arbeitsmarkt für Ingenieure:Ein ewiges Auf und Ab

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Die einen prognostizieren einen gewaltigen Bedarf an Ingenieuren, die anderen bezweifeln die Zahlen. Dabei verändert sich die Relation von offenen Stellen zu Arbeitssuchenden zyklisch.

Von  Katharina Vitinius

Germanisten und Biologen wissen längst, dass selbst ein sehr guter Studienabschluss einige Dutzend Bewerbungen erfordert. Nun dämmert auch den Technikern, dass der seit zehn Jahren ausgerufene Ingenieurmangel ein Papiertiger ist. Gegenüber den etwa 15 000 von der Arbeitsagentur berichteten offenen Stellen gibt es aktuell mehr als doppelt so viele arbeitslos gemeldete Ingenieure. Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) möchte das Missverhältnis gern relativieren und spricht von einer hohen Dunkelziffer gar nicht erst ausgeschriebener Positionen.

Doch viele Ingenieure arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus oder verdingen sich mangels Alternativen bei einem Personalvermittler. "Der kritische Mangel an Ingenieuren ist vorbei", sagt Frank Ferchau, Inhaber des gleichnamigen Ingenieurdienstleisters. Auch beim Düsseldorfer Branchenkollegen Excellence heißt es, freie Stellen könnten mit Leichtigkeit besetzt werden. "Wir haben ständig etwa 300 offene Stellen für Ingenieure im Kundeneinsatz und bekommen jeden Monat rund tausend Bewerbungen", erklärt die Vorstandsvorsitzende Vera Calasan. "Für uns geht das gut auf."

Der Fachkräftemangel fällt je nach Region unterschiedlich aus. Diese Ingenieure arbeiten in einer Anlage zur Lastspitzenkompensation in Breitenworbis. (Foto: Martin Schutt/dpa)

Offensichtlich zeigen die wiederkehrenden Alarmrufe des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) Wirkung. Noch im Frühjahr 2014 verkündete Verbandspräsident Udo Ungeheuer einen jährlichen Fehlbedarf von 90 000 Ingenieuren. Dabei müsste er wissen, dass die Abiturienten seit 2008/09 in Scharen in die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge strömen. "Die Absolventenzahlen in den industrienahen Ingenieurberufen wie Maschinenbau, Elektrotechnik und Fahrzeugbau waren mit rund 72 000 im Jahr 2014 etwa dreimal so hoch wie im Jahr 2000", sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Der Arbeitsmarktexperte weiß, dass junge Leute ihre Berufswahl an der Nachfrage ausrichten und sagt: "Die Reaktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte darf nicht unterschätzt werden."

Die Statistik der Arbeitsagentur kann das belegen. Zwischen 2004 und 2013 ist die Zahl der Erwerbstätigen mit einem industrienahen Ingenieurstudium wie Maschinenbau, Verfahrenstechnik, Verkehrstechnik, Energietechnik, Elektrotechnik und Produktionstechnik von 739 000 auf 990 000 gestiegen. Die Folge: Wenn Ingenieure heute in den Beruf starten, merken sie nichts von Knappheit. Weder stehen die Unternehmen Schlange bei den Hochschulen, um die Absolventen schon am Start aufzusaugen, noch reißen sie sich um Bewerber, die nicht ganz dem Ideal entsprechen.

Auch die Einstiegsgehälter haben sich entgegen den Berechnungen des VDI seit 2002 nicht merklich erhöht, wie Personalexperten versichern. Nur dies würde einen echten Mangel beweisen. Stattdessen deutet alles darauf hin, dass sich ein Überangebot an technischen Fachkräften aufbaut. Zwischen Oktober 2012 und Oktober 2015 sei die Arbeitslosigkeit bei den Maschinenbauern um 60 Prozent und bei den Elektrotechnikern sogar um 93 Prozent gestiegen, rechnet Brenke vor. Bei allen industrienahen Ingenieuren zusammengenommen und auch bei den Informatikern sei die Erwerbslosigkeit um ungefähr ein Drittel gestiegen.

"Aber das war ja nicht anders zu erwarten", sagt der Sozialwissenschaftler Brenke und spricht von einem Schweinezyklus. Der geht nicht nur bei den Ingenieuren so: Die Industrie macht Panik. Als Folge setzt ein Ansturm auf das entsprechende Studium ein. Nach ein paar Jahren kommen mehr Absolventen auf den Arbeitsmarkt, als gebraucht werden. Die Erwerbslosigkeit steigt, die Berufschancen sinken. Nun geraten die Abiturienten in Panik und wenden sich von den technischen Studiengängen ab. Ein paar Jahre darauf sind Ingenieure wieder knapp - und der Kreislauf beginnt von Neuem.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (Foto: SZ-Grafik)

Nicht einmal annäherungsweise möchte Lars Funk den Begriff Schweinezyklus auf Ingenieure bezogen wissen. Richtig sei, sagt der Bereichsleiter Beruf und Gesellschaft beim VDI in Düsseldorf, dass es keinen akuten Ingenieurmangel gebe. Ursache dafür sei der starke Anstieg bei den Studienanfängern und Absolventen. Wo sei da ein Schweinezyklus? "Aus Sicht des VDI haben wir Vollbeschäftigung und damit einen gesunden Arbeitsmarkt", sagt Funk. "Wir haben so viele Absolventen wie nie und gleichzeitig eine hohe Nachfrage aus der Industrie." Der VDI spricht von aktuell 63 000 offenen Stellen für Ingenieure, denen 29 000 arbeitslose Ingenieure gegenüberstehen. Dabei geht der Verein davon aus, dass nur etwa jede fünfte offene Stelle der Arbeitsagentur gemeldet wird. Nicht wenige Ökonomen ziehen das in Zweifel.

Auch die Arbeitsagentur sieht die Rechenkünste des VDI skeptisch. Den von Karl Brenke errechneten zweistelligen Zuwachs bei der Ingenieur-Arbeitslosigkeit schiebt Funk mit dem Hinweis auf die geringe Ausgangsbasis ins Reich der statistischen Augenwischerei. Sicher gebe es auch arbeitslose Ingenieure. Aber da müsse man genau hinschauen. Wo sitzen die denn? "In Nord- und Ostdeutschland gibt es nun mal nicht so viele mögliche Arbeitgeber." Was haben die studiert? "Mit steigender Spezialisierung werden die passenden Angebote natürlich knapper." Probleme bei der Jobsuche sieht der Verbandsmanager allenfalls in bestimmten Regionen und bei besonderen Spezialisierungen.

Die gute Nachricht: Ingenieur ist nicht gleich Ingenieur. "Bei den Lebensmittelingenieuren und den Druckingenieuren hat sich keine Arbeitslosigkeit aufgebaut", sagt Wirtschaftsforscher Brenke. Bei den Bauingenieuren sei die Zahl der Erwerbslosen sogar gesunken. Der Grund: Im Krisenjahr 2009 ist die Bauproduktion in Deutschland abrupt zurückgefallen. Als Folge sanken die Einschreibungen in den Studiengängen im Bauingenieurwesen. Jetzt zieht die Bauproduktion wieder an, der Bedarf an Fachkräften steigt, und die Arbeitslosigkeit geht zurück. Karl Brenke: "Das ist das umgekehrte Bild dessen, was wir bei den industrienahen Ingenieurberufen sehen."

VDI-Präsident Udo Ungeheuer sagt für das Jahr 2020 einen gewaltigen Ingenieurmangel voraus: Es gebe weniger angehende Ingenieure an den Hochschulen, mehr dafür auf den Rentnerbänken und fortgesetzten Bedarf bei den Arbeitgebern. "Wir haben den Arbeitsmarkt bis 2030 untersucht", sagt auch VDI-Bereichsleiter Funk. "Die Nachfrage der Industrie wird die Anzahl der Absolventen übersteigen, denn schon in zwei Jahren werden die Absolventenzahlen wieder sinken." Also ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um dem 14-jährigen Sohn oder der Tochter einen Metallbaukasten zu schenken. Aber täte man das, würden Ökonomen vermutlich doch wieder mit dem Schweinezyklus anfangen.

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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