Arbeitslos in Deutschland:Rückzug in die Stille

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Wie eine Familie in Jena damit zurechtkommt, auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht zu werden.

Constanze von Bullion

Es hat sich eine eigenartige Stille ausgebreitet im Leben der Roswitha Prager. Wie eine unsichtbare Decke hüllt sie den Alltag ein, lässt die Geräusche gedämpft und die Bewegungen langsamer wirken. Immerhin, sagt sie, ist sie jetzt nicht mehr gelähmt wie damals, als sie die Briefe in den Händen hielt und dachte, es ist vorbei.

(Foto: Foto: AP)

Roswitha Prager ist 54 Jahre alt, eine solide Dame mit einem wachen Blick, die eigentlich Buchhalterin ist und jetzt Empfängerin von Arbeitslosengeld II. Sie lebt in einem Häuschen am Stadtrand von Jena, mit ihrem Mann, ihrem erwachsenen Sohn und einem Sammelsurium von Nippes. Draußen im Garten blühen die Gladiolen und der Hibiskus, aber die ganze Pracht scheint nicht so recht vorzudringen bis hier drinnen.

Die Tischdecke im Wohnzimmer ist mit einer Folie abgedeckt. Roswitha Prager hütet die Dinge, die ihr bleiben. Sie legt Bewerbungsmappen auf den Tisch und ihren Lebenslauf, als wollte sie beweisen, dass immer noch alles möglich ist. Fünf bis zehn Bewerbungen verschickt sie jeden Monat, oft an Firmen, die nicht mal antworten. Sie macht weiter. Weil sie raus will hier.

Zu leben ohne Arbeit und froh dabei zu sein, das ist ein Kunststück, das sie noch üben muss. Millionen kämpfen jetzt wie sie darum, den Kopf oben zu halten, und es ist oft nicht nur das knappe Geld, sondern dieses Gefühl, nirgends mehr dazuzugehören, das die Leute plagt.

Tränen am Morgen

Hartz IV - das war mal so gedacht, dass Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr gebraucht werden, einen anderen finden. Vielleicht einen schlechter bezahlten, einen weniger anspruchsvollen oder einen weiter entfernten. Manche brauchen mal einen Stoß, sagen die von der Agentur für Arbeit. Roswitha Prager braucht etwas anderes. Sie hat eigentlich nie zu denen gehört, für die Beruf etwas mit Berufung zu tun hat, was auch an ihrer Herkunft liegt. Ihr Vater stand bei Zeiss in Jena am Band, die Mutter in der Kolchoseküche. Von ihrer Idee mit der Modeschule hielten die Eltern wenig, und Lehrerin ließ man sie wegen der Stimme nicht werden. Also wurde sie Finanzkauffrau, wenn auch ungern, für Zahlen hatte sie nie viel übrig.

Roswitha Prager hat für den Rat des Kreises die Preise in den Läden kontrolliert - und nicht geahnt, wie viel Selbstbewusstsein ihr das gab. Als die Wende kam und dieser junge Hesse auftauchte, führte sie die Bücher einer Brauerei. Der Hesse konnte reden, und die Bank gab ihm Geld. "Na ja, das war"s", sagt sie. "Is' Geschichte", sagt ihr Mann.

Die Brauerei ist jetzt abgerissen, und auch die Münchner Buchhändlerin ist weg, für die Roswitha Prager zuletzt gearbeitet hat. Die hatte vergessen, ihre Gewinne zu versteuern. Als das rauskam, war Frau Prager 50 Jahre alt und merkte plötzlich, dass da nicht viel blieb ohne die Arbeit.

Sicher, sie hat den Garten, den sie liebt, und ihren Mann, mit dem sie gern im Wohnmobil verreist. Aber Erholung tut nur gut, wenn man müde ist, und Roswitha Prager war nicht müde. Sie war jetzt ängstlich und fing an, sich vor Krankheiten zu fürchten, vor der Zukunft und vorm Leben an sich. Schon morgens brach sie in Tränen aus, und dauernd rannte sie zum Arzt. Der fand sie depressiv und schickte sie zur Kur.

Es ist noch nicht lange her, dass Roswitha Prager als geheilt entlassen wurde. Sie hat ein paar Knieoperationen hinter sich und eine Psychotherapie, "die sollte jeder DDR-Bürger mal machen", findet sie. Auch ihr Mann hat sich wieder gefangen, er ist jetzt Klempner in Rente, "gezwungenermaßen", sagt er.

Familie Prager ist eine andere geworden, und auch die Stadt um sie herum hat sich entwickelt. Nur eben in die andere Richtung. Die einst verrußten Fachwerkfassaden von Jena leuchten wieder. Das alte Zeiss-Kombinat gehört zu einem Weltkonzern, in der Stadt arbeiten Forscher aus aller Welt, und die Arbeitslosigkeit liegt mit 12,6 Prozent deutlich unter dem Thüringer Durchschnitt.

Bei Roswitha Prager aber ist es nicht bergauf gegangen. Es kamen Briefe, einer nach dem anderen. Hartz IV, das kannte sie nur aus dem Fernsehen, jetzt sollte sie von 330 Euro leben. Sie legte Widerspruch ein, da kam der nächste Brief: 230 Euro, noch weniger also. Kurz darauf trudelte das nächst Schreiben ein: 194 Euro. "Ich hatte 'nen Schock", sagt sie. "Wenn hier niemand gewesen wäre, ich hätte mich umgebracht."

Sie sagt das nicht nur so, es gab schon früher Momente, in denen sie einfach Schluss machen wollte. 194 Euro, das reicht nicht mal für den Einkauf, wenn man einen Kredit abzahlt, befürchtete sie. "Wenn's darauf ankommt, müssen wir das Haus verkaufen", sagt ihr Mann. Er hat es von seinem Vater geerbt.

Es hat sich dann herausgestellt, dass das Hartz-Geld falsch berechnet war. Ein Computerfehler, einer von so vielen. Der Schreck aber sitzt den Pragers in den Knochen, weil sie begriffen haben, wie klein ihre Welt jetzt ist. Kollegen haben sie nicht mehr, der Urlaub in Bayern ist gestrichen. Manchmal gehen sie noch zu Schlagern tanzen, und Roswitha Prager steckt jetzt alle Kraft in ihre Beete.

Dieser Rückzug in die Stille aber und das Gefühl festzusitzen, das scheint sich nun auf andere zu übertragen. Die Pragers machen sich manchmal Sorgen um ihren Sohn, der schon ein paar graue Haare hat und immer noch zu Hause wohnt. "Hotel Mama", sagt Ekkehart Prager, der Familienvater, den leise Zweifel beschleichen, ob er härter durchgreifen sollte. Damit ihm nicht auch der Rest noch durch die Finger rinnt.

Er sieht jede Woche, wie seine Frau sich bewirbt, manchmal ruft auch eine Firma zurück. Ein Bauunternehmer suchte eine Bürokauffrau, allerdings eine, die sich mit seiner Buchhaltung selbstständig macht. Scheinselbstständig, sagten die Arbeitsberater und rieten ab. Dann meldete sich ein Dachdecker, und als er nichts mehr hören ließ, fuhr sie hin. Er hat sie vertröstet - und dann die Nichte eingestellt. In einem Forschungszentrum immerhin waren sie nett, zurückgerufen hat leider niemand. Roswitha Prager glaubt zu wissen, warum: "Zu alt, zu dick, zu unmodern."

Wenn das Selbstbewusstsein geht, dann kommt die Wut, und manchmal beschimpft Frau Prager jetzt den Fernseher. Da ist dieser Stoiber, der über die frustrierten Ostler schimpft, oder Schönbohm, der sie so verkommen findet. "Ich bin nicht verkommen, vielleicht ist er es", sagt sie. Ihre Stimme bebt jetzt, die Sache geht ihr nah.

So lange sie denken kann, hat sie gearbeitet, sagt sie, nie war sie abhängig von jemandem oder in der Partei. Sie hat seit der Wende SPD gewählt und der DDR nicht eine Träne nachgeweint. Aber ein paar Werte, findet sie, die gab es doch immerhin. Als Frau geachtet zu werden zum Beispiel und gefördert für gute Leistungen. Sie wird wohl Gysi wählen, zum ersten Mal, sagt sie irgendwann. Steht auf, sucht ihre Jacke, Zeit zu gehen.

Ekkehart Prager hat den alten BMW aus der Garage gefahren, ein rostrotes Modell, das er nach der Wende erhandelt hat. Jeden Montag steuert er es hinaus aus der Siedlung, in die Stadt und in eine stille Seitenstraße. Heute wird der Bundeskanzler nach Jena kommen, die Pragers aber haben ein anderes Ziel.

Am Holzmarkt, wo die Fußgängerzone beginnt, dröhnt Musik, und jemand hat ein paar Bänke aufgestellt. Hier treffen sich jede Woche die Montagsdemonstranten, und neben ihnen wirken die Pragers fast wieder jung. Viele hier hat das Leben grau gemacht, und andere waren wohl schon grau, als ihre Partei unterging. Der Organisator der Demo fährt im Alfa Romeo vor, er ist von der PDS und wird über Gerechtigkeit sprechen.

Ganz vorne auf einer Bank sitzt eine sehr aufrechte alte Dame. Maria Lusky trägt einen golddurchwirkten Pullover, ein feines Kostüm, in der Hand hält sie einen weißen Stock. Sie war mal Opernsängerin und hat in der DDR kostbare alte Bücher restauriert. Jetzt ist sie 84 und kann nicht mehr viel sehen, aber was sie sieht, treibt sie auf die Straße. Es gibt jetzt so viele, die ihr Haus verkaufen müssen, sagt sie. Manche sind so isoliert, "dann schleicht sich Suizidgefahr ein".

Flammende Reden

Es war Maria Lusky, die sich um Roswitha Prager gekümmert hat, als sie nicht mehr weiter wollte. "Haben Sie Nöte, haben Sie Brot im Haus?", hat sie sie gefragt und immer wieder angerufen. Die Montagsdemonstranten gegen Hartz IV, sagt die alte Dame, das ist jetzt eine Art privates Rettungsnetz geworden und viel mehr als nur eine Ansammlung von Enttäuschten.

Dass die Linkspartei jetzt dieses Netz vereinnahmt, "das möchte ich nicht so sehen", sagt sie später. Maria Lusky ist eine treue Sozialdemokratin und bedauert, dass die Leute so viel klagen hier im Osten. Natürlich gibt es die Sehnsucht nach der "nicht-kämpferischen Lebensweise" der DDR, sagt sie, und leider hört man auch viele Junge maulen. Das liegt am Einfluss der Großeltern, meint sie, denn wenn die Generation der Eltern ausfällt, weil sie mit sich selbst kämpft und mit der Arbeitslosigkeit, sind es die Alten, die den Ton vorgeben.

Vieles aber wird im Westen falsch verstanden, meint sie, nämlich als Rückzug statt als Ungeduld. "Wir nörgeln nicht, weil wir unzufrieden sind, sondern weil wir schneller vorwärts kommen wollen." Manchmal schwingt sie sich jetzt auf und hält flammende Reden vor den Arbeitslosen. Jammern hilft nichts, das ist so einer ihrer Leitsätze. Aber sie will auch der anderen Seite Beine machen.

Maria Lusky nimmt ihren Stock, hakt sich bei einer Bekannten unter und läuft los zum alten Marktplatz von Jena. Als der Kanzler kommt und die Menschen in den hinteren Reihen pfeifen, zieht sie ein Blatt Papier heraus. Sie hat einen Brief an Gerhard Schröder verfasst. Damit er erfährt, was wirklich los ist in der Stadt.

© SZ vom 30.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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