Anders lernen:Schule als Heimat

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In Memmingen versuchen Lehrer mit großem Engagement, die Defizite in den Familien auszugleichen.

Mike Szymanski

Franz Schneider hat schon ein wenig Mühe, beim Rundgang durch seine Schule zu zeigen, worauf es ankommt. Es geht ihm schließlich um die Dinge, die man hier nicht sieht, aber Außenstehende an Hauptschulen oft erwarten: kaputte Toiletten, beschmierte Wände, prügelnde Kinder auf dem Hof. Stattdessen führt der 54 Jahre alte Rektor vorbei an einer Tafel, die zeigt, wie viel Energie die Solarzellen auf dem Dach produzieren, an Urkunden, die seine Klassen erhalten haben und in eine Schulmensa, in der Blumen stehen. Und er versichert, dass ihn die Schüler auch grüßen, wenn kein Gast an seiner Seite steht. Er zeigt nicht mehr als eine funktionierende Schule. Das ist schon seine Botschaft.

Gemeinsames Lernen an der Lindenschule. Auch die Hausaufgaben werden zusammen mit der Lehrerin gemacht. (Foto: Foto: Stefan Puchner)

Franz Schneider ist Rektor der Lindenschule im Memminger Osten, die zwischen Einfamilienhäusern und Wohnblocks liegt. Vor 32 Jahren hatte er hier seine Prüfungen zum Hauptschullehrer abgelegt. Jetzt leitet er sie. Dazwischen liegt eine Zeit, in der die Hauptschule den Weg eines schleichenden Niedergangs genommen hat. Hauptschulen tragen heute den Makel von Restschulen, weil sie die Übriggebliebenen des Bildungssystems auf einen Arbeitsmarkt vorbereiten sollen, der doch lieber Realschüler oder Gymnasiasten nimmt.

Schneider, ein Mann von großer Gelassenheit, sagt: "Hauptschule war immer ein hartes Brot. Wir müssen uns aber verändern, sonst frisst uns das System auf." Die Lindenschule hat sich verändert. Sie ist eine der zehn Modellschulen in Bayern, die mithilfe von viel Geld aus der Wirtschaft ein modernes Lernkonzept entwickeln durften. Seitdem bietet sie Ganztagsangebote, wie sich Schulentwickler das wünschen. Sie bietet nicht nur Mittagessen und Unterhaltung am Nachmittag an, wie das viele Schulen halbherzig machen, sondern eine ausgereifte Stundentafel, zu der auch Pflichtunterricht bis 15.30 Uhr gehört. Nur etwa 60 der 1040 Hauptschulen im Freistaat gehen bislang diesen Weg.

An der Lindenschule besuchen knapp 90 der 400 Jungen und Mädchen Ganztagsklassen. Würde das Ministerium mehr Plätze genehmigen, wären es weit mehr. Für Rektor Schneider steht nach fünf Jahren Erfahrung fest: "Die Ganztagsschule ist die Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme." Was er damit meint, lässt sich in der Mensa beobachten, wo jetzt zur Mittagszeit Kinder vor Tellern mit Fisch und Salat hocken.

An den Wänden hängen kleine Schilder: "Dein Essen aufessen", "Stühle ranschieben", "Nicht schubsen". Es fängt ja schon mit der Erziehung an. "Gemeinsame Mahlzeiten, Familienausflüge, Grenzen gesetzt bekommen - viele Schüler sind das von zu Hause nicht gewohnt", sagt Schneider. Er meint das nicht vorwurfsvoll. Eltern, die ihre Kinder bei Schneider in eine Ganztagsklasse schicken wollen, müssen Bewerbungen verfassen. Darin schildern sie ganz offen ihre Gründe und es sind oft dieselben: alleinstehend, lange Arbeitstage, überfordert schon mit dem eigenen Leben.

"Die Eltern sind meist an den Grenzen dessen, was sie leisten können, nicht was sie wollen", sagt Schneider. Für ihn ist die Ganztagsschule daher auch eine Antwort auf die fehlende Chancengleichheit in der Gesellschaft: "Unsere Schüler spielen kein Cello, gehen nicht zum Reiten und sind auch selten in Vereinen."

In der Klasse 6c hat gerade die Lernförderstunde begonnen. Die 24 Jungen und Mädchen werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Elke Schmid, 38 Jahre alt und Konrektorin, bereitet ihre Gruppe auf einen Test vor. Es geht um den Umgang mit Taschengeld. Ihre Schüler sollen Plakate malen. "Ich verwende keine Sätze, sondern. . .?", fragt sie in die Klasse. "Stichwörter", sagt einer. Es werden mühsame 45 Minuten für Schmid.

Schmid hat früher an einer Dorfhauptschule unterrichtet. Da haben die Mütter noch die Hausaufgaben für ihre Kinder gemacht, wenn die lieber in den Stall zu den Kühen wollten. Heute macht Schmid die Hausaufgaben mit den Schülern, damit sie überhaupt gemacht werden - an Nachmittagen, an denen die Kinder sonst eh nichts vor hätten. "Leistungsmäßig bringt uns das weiter", sagt sie. Im Schnitt verbessern sich Ganztagsschüler um eine halbe Note.

Vor allem Unionspolitiker taten sich immer schwer mit der Ganztagsschule, verteufelten sie als familienfeindliche sozialistische Anstalten. Allmählich dreht sich der Wind. Auch die CSU akzeptiert anscheinend, dass manche Familien ihren Kindern nicht immer geben können, was sie brauchen. Und sie sieht wohl ein, dass man es sich nicht leisten kann, Bildungschancen von sozialer Herkunft abhängig zu machen. Fast zehn Prozent der Schüler verlassen die Schule in Bayern ohne Abschluss. Jetzt will die Staatsregierung ein flächendeckendes Ganztagesangebot an den Hauptschulen einrichten. In den anderen Schularten sollen laut Ministerium vorwiegend nur Betreuungsmöglichkeiten entstehen.

Sicher würde auch Rektor Schneider lieber sehen, dass Eltern mehr Zeit mit ihren Kindern verbrächten. Weil er aber weiß, dass die Realität bei vielen daheim anders aussieht, bezahlt er aus seinem kleinen Budget freiwilligen Helfern ein Taschengeld dafür, dass sie nachmittags mit Schülern Schachspielen oder etwa turnen. Erste Studien, die Ganztagsschulkonzepte auf ihre Tauglichkeit untersuchen, machen den Lehrern an der Lindenschule Mut: Vor allem die Sorge, Ganztagsschulen könnten das Familienleben zerstören, sind offenbar unbegründet. Die Kinder verbringen ähnlich viel Zeit mit ihren Eltern wie Halbtagsschüler, fanden Forscher heraus. Entfallende Hausaufgaben wirkten sich "tendenziell positiv" auf das Familienleben aus.

Die Ganztagsschule ist kein Notfallprogramm allein für Schlüsselkinder, darauf legt Rektor Schneider Wert. Auch Grundschüler, Gymnasiasten und Realschüler profitieren, wenn sie mehr Zeit zum Lernen haben. Die Anforderungen an die Schule sind schließlich in den vergangenen Jahren gestiegen. "Wir können unsere Schüler durch den Nachmittagsunterricht stabilisieren." Das sei man den Kindern schließlich schuldig.

© SZ vom 20.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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