Alternativschulen:Freiheit statt Pflicht

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Musisch und künstlerisch begabte Kinder werden an der Münchner Aton-Schule in altersgemischten Gruppen gefördert. (Foto: Stephan Rumpf)

Keine Noten, keine Prüfungen. Manche Privatschulen pflegen ein liberales Unterrichtskonzept. Es eignet sich nicht für jeden.

Von Bianca Bär

Mit dem Druck, den Simon Erber verspürt, kommt er nicht zurecht. Er besucht die vierte Klasse einer Hamburger Grundschule. Je näher die Übertrittszeugnisse rücken, desto weniger Lust hat der sonst so neugierige Junge auf den Unterricht. Er trödelt, klagt über Bauchschmerzen. Die Eltern bleiben zunächst streng. Durch diese Phase müsse er nun mal durch. Als sich sein Zustand nicht bessert, sehen sie sich nach Alternativen um. Über den Bundesverband der Freien Alternativschulen - einem Zusammenschluss von 90 Schulen in freier Trägerschaft - stoßen die Erbers auf die Freie Humanistische Schule im Landkreis Oldenburg. "Das Konzept sagt uns zu. Die Kinder können dort selbstbestimmt lernen", sagt Simons Mutter Marion Erber. Ihr gefällt auch, dass die Schule klein ist, die Mitarbeiter scheinen ihr sympathisch zu sein.

Während der Schnupperwoche lernte Marion Erbers damals neunjähriger Sohn den Schulalltag kennen. Schon nach wenigen Tagen verschwanden seine Bauchschmerzen. Denn in der kleinen privaten Grund-, Haupt- und Realschule im 2000-Einwohner-Ort Huntlosen gibt es weder Prüfungen noch Noten und Zeugnisse. Stattdessen erhalten die Schüler Berichte über ihre persönliche Entwicklung. Da der Unterricht in kleinen Gruppen stattfindet, können die Lehrer die Kinder genau beobachten und individuell fördern. Die Gruppen sind altersgemischt, nur die Erstklässler sind unter sich. "Meist lernen die Schüler der zweiten bis vierten, fünften bis siebten und achten bis zehnten Stufe mit- und voneinander", erklärt Geschäftsführerin Katharina Krebs. Die Teilnahme am Unterricht selbst sei allerdings nicht verpflichtend. Zwar müssen alle Kinder zur Schule kommen, doch können sie selbst entscheiden, an welchen Angeboten sie teilnehmen. Missbraucht werde diese Freiheit selten. "Dass jemand wirklich alle Angebote konsequent verweigert, kommt eigentlich nicht vor", stellt Krebs fest.

Die 2005 gegründete Schule ist noch im Aufbau, daher sind derzeit nur 30 Schüler angemeldet. "Auf Dauer möchten wir nicht mehr als 60 Schüler aufnehmen", sagt Krebs. "Jeder soll jeden kennen, das ist Bestandteil unserer humanistischen Grundeinstellung." Zu den größeren Freien Alternativschulen im Bundesverband zählt mit 170 Schülern die Freie Schule Leipzig (FSL). Auch in Leipzig lernen Kinder verschiedenen Alters gemeinsam, ohne Prüfungen und auf Freiwilligenbasis. Markenzeichen der Schule ist ihr demokratischer Grundsatz: Zweimal pro Woche leitet ein Schülerteam eine Schulversammlung. Dabei geht es unter anderem um die Gestaltung des Schulalltags. "Die Schüler haben sogar ein Mitbestimmungsrecht bei der Einstellung neuer Lehrkräfte", erzählt Lehrer Henrik Ebenbeck. "Einige Schüler entscheiden zusammen mit zwei Lehrern, wer zum Probeunterrichten eingeladen wird. Am Ende stimmen alle geheim über die Kandidaten ab."

Etwas strenger als in Leipzig und Huntlosen geregelt ist der Schulalltag in der Münchner Aton-Schule, einer Grund- und Volksschule mit Mittlere-Reife-Zweig. Zwar stehen auch hier von der ersten bis zur zehnten Klasse keine benoteten Prüfungen an, doch in der musisch-kreativen Ganztagsschule ist die Teilnahme am Unterricht Pflicht. In altersgemischten Gruppen à 15 bis 18 Schülern geben die Lehrer vor, welche Themen behandelt werden, räumen den Schülern aber Freiraum für individuelle Ziele ein. Hat ein Kind mit dem Stoff Schwierigkeiten, kann es in seinem eigenen Tempo weiterlernen. Einzel- und Gruppenmusikstunden ergänzen den Unterricht. Die Unterrichts- und Probeneinheiten wechseln sich ab mit freien Lernzeiten, in denen die Schüler eigene Projekte erarbeiten. "Die einen gestalten ihr eigenes Puppentheater, während andere ihr Musikinstrument üben", berichtet Kamilla Hoerschelmann, Leiterin der Aton-Schule. "Manche schreiben auch kleine Bücher, etwa über ein Land oder Funktionen des menschlichen Körpers."

Das alternative Schulkonzept hat allerdings seinen Preis. Als Schulen in freier, nicht-staatlicher Trägerschaft sind die drei Einrichtungen auf Schulgeld angewiesen. Dieses beläuft sich in Huntlosen auf mindestens 150 Euro und in Leipzig in der Regel auf 65 Euro im Monat. Finanzschwächere Familien können jedoch Zuschüsse beantragen. An der Aton-Schule ist der Beitrag Verhandlungssache, er hängt vom Einkommen der Eltern ab.

Vom Status einer Freien Schule hängt es ab, ob Jugendliche die Abschlussprüfung extern machen

Aber zahlt sich das aus? Was lernen die Schüler bei so wenig Druck? Ebenbeck vertraut auf die Wissbegier der Schüler. "Kleine Kinder lernen im Alltag, ohne dass ihnen jemand das vorschreibt. Das ändert sich nicht schlagartig, wenn jemand sechs wird." An Regelschulen werde die innere, persönliche Lernmotivation der Schüler oft jedoch bald durch die Jagd auf gute Noten verdrängt. Katharina Krebs findet es daher wichtig, dass die Schüler einen Sinn im Unterrichtsstoff sehen: "Einer unserer Schüler hat lesen gelernt, weil er sich so für Dinosaurier interessiert und sie alle beim Namen kennen wollte."

Das Konzept der Freiwilligkeit kann also funktionieren, doch es passt nicht zu allen Schülern gleichermaßen: "Manche fühlen sich nicht so wohl, wenn sie so oft Entscheidungen darüber treffen müssen, wie sie ihre Zeit verbringen", sagt Ebenbeck. "Am stärksten profitieren Kinder von diesem Modell, wenn sie genügend Eigeninitiative und Selbstdisziplin mitbringen." An diese Anforderungen müssen sich Quereinsteiger aus Regelschulen erst gewöhnen. "Sie sind oft nur darauf getrimmt, Arbeitsanweisungen auszuführen", sagt Hoerschelmann von der Aton-Schule. In freien Lernzeiten fehlt manchen dann die Bereitschaft zu lernen. Sie bummeln herum und stören womöglich die anderen Schüler."

Auch die Eltern müssen hinter dem Konzept stehen, betont Krebs. "Manche Eltern kommen schlecht damit zurecht, dass sie nicht ständig in Form von Noten über die Leistungen ihrer Kinder informiert werden. Für Marion Erber war es zunächst auch eine Herausforderung, so viel Vertrauen in ihren Sohn zu setzen. "Es erfordert viel Mut, es auszuhalten, dass das Kind auch mal ein halbes Jahr nichts tut", stellt sie fest. Ihr inzwischen 13-jähriger Sohn Simon nimmt wenige Lehrangebote wahr. "Aber er holt sich sein Wissen aus Büchern und dem Internet. Das ist vielleicht nicht unbedingt für seine Abschlussprüfung relevant", stellt sie fest. Trotzdem glaubt sie: "Wenn mein Sohn später eine bestimmte Arbeitsstelle haben will, wird er sich hinsetzen und das lernen, was er dafür braucht."

Die Abschlussprüfungen müssen die Schüler der Freien Humanistischen Schule, der Aton-Schule und der FSL als externe Prüflinge an staatlichen Regelschulen ablegen. Ihr Rechtsstatus erlaubt es den drei Alternativschulen nicht, selbst Abschlussprüfungen abzunehmen. Zur Vorbereitung darauf erhalten die Schüler aber intensive Betreuung. In Leipzig und Huntlosen beruht die Teilnahme an der Prüfungsvorbereitung allerdings wiederum auf Freiwilligenbasis.

Wie sich die Schüler in den externen Prüfungen schlagen werden, ist in Huntlosen noch ungewiss. Da die Schule erst seit 2011 eine Sekundarstufe anbietet, gibt es noch keine Absolventen. An der FSL gab es immerhin bereits fünf Abschlussklassen. "Von den 32 Schülern dieser Klassen haben 23 den Real- und einer den Hauptschulabschluss erfolgreich absolviert", berichtet Schullehrer Ebenbeck. Drei haben die externen Prüfungen jedoch nicht bestanden. "Und es gibt fast immer auch einige wenige Schüler - bisher waren es fünf - die von sich aus gar nicht zur Prüfung antreten, sondern ohne staatlichen Schulabschluss gehen", gibt er zu. Diese erhalten ein Europäisches Diplom für Demokratische Schulen als Abschlusszeugnis. Bislang haben knapp die Hälfte der FSL-Absolventen mit Realschulabschluss ihre Schullaufbahn am Gymnasium fortgesetzt.

"Seit 2009 haben sich 21 Schüler für die externe Mittlere-Reife-Prüfung angemeldet und zehn für den Qualifizierten Hauptschulabschluss. Durchgefallen sind davon nur zwei", stellt Hoerschelmann von der Aton-Schule fest. Nicht wenige entscheiden sich danach dafür, noch länger die Schulbank zu drücken. "2014 sind 80 Prozent der Mittlere-Reife-Zweig-Absolventen auf ein Gymnasium oder die Montessori-Oberschule gewechselt, um das Fachabitur oder Abitur zu machen", berichtet die Schulleiterin.

© SZ vom 10.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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