Wissenschaftsfotograf Nilsson wird 90:Als Embryos zu Ikonen wurden

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Unfassbar vollständig in seinen klinischen Details und befremdlich wunderschön zugleich: Der schwedische Fotograf Lennart Nilsson machte Bilder vom ungeborenen Menschen und veränderte das Bild von der Schöpfung. Jetzt wird er 90 Jahre alt.

Bernd Graff

Eines der wichtigsten Filmbilder der Welt ist ein Zitat. Am Ende von Stanley Kubricks 1968 veröffentlichter "2001: A Space Odyssey", nachdem man erlebt hat, wie ein Menschenleben, ja, eine Menschheitsgeschichte im psychedelischen Farbrausch der Zeitentunnel zu Ende gegangen ist, ganz zum Schluss sieht man unsere Erde in aller unberührten Indifferenz im All. Die Kamera lässt sie in kosmischer Kälte schweben, aber hinein dreht sich, langsam und genauso groß, das Bild eines in seiner Fruchtblase schwebend-schwimmenden Fötus'. Er betrachtet mit Lemuren-Augen die Welt. Dazu hört man die Bläser aus Richard Strauss' "Also sprach Zarathustra". Ist das die anstehende Geburt des Übermenschen - oder das ewige Rad der Wiedergeburt? Mikrokosmos und Makrokosmos - gleich groß. Gleich allein.

Lennart Nilsson auf einem undatierten Archivfoto in seinem Büro. Im Hintergrund ist sein bekanntestes Foto zu sehen: der Embryo mit dem Daumen im Mund. (Foto: DPA-SZ)

Dass Kubrick dieses Fötus-Bild wählen konnte, und eben nicht das Foto eines neugeborenen Menschen, lag daran, dass jenes Bild da schon längst zur Ikone geworden war. Denn zitiert hat der Regisseur die Aufnahme des schwedischen Fotografen Lennart Nilsson, der als erster Wissenschaftsfotograf mit Endoskopen in den Mutterleib hinein fotografierte, um Bilder vom entstehenden Leben zu machen.

Nilsson wurde weltberühmt, als das New Yorker Magazin Life seine Aufnahme im April 1965 auf den Titel brachte. Der dazu gehörende Artikel war "Drama of Life before Birth" betitelt und nannte Nilssons Fotostrecke im zweiten Satz: "unfassbar vollständig in seinen klinischen Details und befremdlich wunderschön zugleich." Nilsson hatte sieben Jahre an seinem Foto-Projekt gearbeitet. Fachleute wie Karl Storz und Carl Zeiss hatten in den ersten der sechziger Jahre die optischen Spezial-Geräte entwickelt, sogenannte Endoskope, die er an seine Foto- und Filmkameras montieren konnte. Sie waren die technische Voraussetzung dieser Bilder.

Das Life-Magazin mit Nilssons Embryonen-Titel verkaufte sich in drei Tagen acht Millionen Mal. Der Stern kaufte seine Fotos im Juni 1965, Paris Match ebenfalls, auch hier landete dasselbe Föten-Porträt auf den Titeln. Warum wirkten Nilssons Bilder so stark? Bilder von Föten kannte man ja auch damals schon lange Zeit, Föten-Präparate auch.

Was hier so faszinierte - neben der ganz eigenen Ästhetik rötlich-durchsichtiger Farbigkeit, von Adern marmorhaft durchzogen -, war: der eigentlich schier unmögliche, ja unerlaubt göttliche Blick des Betrachters auf das Leben in seiner Entstehung. "Das ist wie der erste Blick auf die Rückseite des Mondes", hatte der Direktor de Stockholmer Universitäts-Frauenklinik damals ausgerufen, an der die Bilder entstanden. "Diese Fotos erwecken mehr als alle theoretischen Erklärungen Ehrfurcht vor dem Leben", hatte Henri Nannen dazu geschrieben.

Denn die Kraft dieser Bilder rührt in einer Zeit des überall wahrzunehmenden und stets in Bildern dokumentierten Umbruchs: des nach der Kuba-Krise immer noch schockierend Kalten Krieges, des außer Kontrolle geratenden Vietnam-Krieges, der gesellschaftlichen Umbrüche der Bürgerrechtsbewegungen und Jugend-Revolten, der aufkommenden Emanzipation von Frauen, der Pille und des Pop, der angekündigten Mond-Mission der bemannten Raumfahrt - die Kraft dieser ruhigen Bilder von lebenden Föten beruhte darauf, dass man sie machen konnte.

Eine Aufnahme eines Embryos aus Nilssons Dokumentarfilm: "Faszination Leben". (Foto: dpa)

In der christlich geprägten Anthropologie gilt der Mensch als Imago Dei, als Ebenbild Gottes. Die Gottesebenbildlichkeit in seiner Entstehung zu fotografieren, verlangt schier gottgleiche Fähigkeiten. Auch die Fotos verdanken sich einem Schöpfungs-Akt: Das Ebenbild Gottes als Bild, das sich gottgleicher Schöpfungskraft verdankt. Das war die Ungeheuerlichkeit in Lennons Nilssons Foto: Es dokumentiert scheinbar ein Remis göttlicher Kräfte. Und lässt doch alle Fragen offen.

Am anderen Ende des Spektrums, allerdings historisch früher, hat jemand beim Blick auf sein Röntgenbild eine ähnliche Erfahrung gemacht. Hans Castorp, der Held aus Thomas Manns Roman "Zauberberg", sieht zum ersten Mal Röntgenbilder seiner Hand. Ihn überkommen "Zweifel an der Erlaubtheit seines Schauens, und die zerrende Lust der Indiskretion mischte sich in seiner Brust mit Gefühlen der Rührung und Dankbarkeit". Doch ist sein spontaner Ausruf der: "Mein Gott! Ich sehe!"

Lennart Nilsson, der am 22. August 90 Jahre alt wird, hat vor über vierzig Jahren lebende menschliche Föten sichtbar gemacht. Er war dem entstehenden Leben in utero bis auf 2,5 Zentimeter mit seinem Kamera-Auge nahe gekommen. Seitdem mischen sich die Gefühle, und die Frage ist nicht mehr zu unterdrücken: Was hat er fotografiert? Kubrick wusste darauf auch keine Antwort.

© SZ vom 22.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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