Arzt-Patienten-Verhältnis:Das Dilemma der Diagnose

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Medizinische Diagnosen sind nicht immer die passende Beschreibung für eine Krankheit, sondern häufig interessengeleitete Konstruktionen. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Von kranken Gesunden und gesunden Kranken: Ärzte benennen Leiden, doch das Erleben der Patienten spiegelt sich darin oft nicht wider. Sind viele dieser Diagnosen unnötig?

Von Werner Bartens

Manche Patienten leiden an idiopathischen Erkrankungen. Oder an essentiellen Störungen. Sie sind von funktionellen Leiden betroffen; oft haben die Beschwerden eine somatoforme Komponente. Diese sperrigen diagnostischen Zuschreibungen hören sich ebenso seriös wie einschüchternd an - sie bedeuten allerdings nur, dass der Arzt auch nicht weiß, was dem Patienten fehlt. Doch immerhin, das Leiden der Kranken ist mit einem medizinischen Fachbegriff versehen, die Beschwerden haben ein Etikett.

"Diagnosen sind Namen für ein unbekanntes Drama", hat Thure von Uexküll, einer der prägenden Ärzte für Psychosomatik im 20. Jahrhundert, gesagt. Die verborgenen Wirklichkeiten hinter den diagnostischen Zuschreibungen waren Thema der Jahrestagung der Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin am vergangenen Wochenende in Frankfurt. Was Diagnosen verraten - und zwar sowohl über den Patienten als auch über den Arzt und den Zeitgeist - wollten die Teilnehmer erkunden, die sich dafür einsetzen, psychosomatische Prinzipien in jedem Fachgebiet der Medizin zu verankern.

Dass medizinische Diagnosen nicht immer die passende Beschreibung für eine Krankheit, sondern häufig interessengeleitete Konstruktionen sind, macht der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik deutlich. "Diagnosen sind längst nicht mehr rein medizinisch motiviert, sondern ökonomisch, politisch-kulturell oder historisch", so der Arzt. "Um besser abrechnen zu können, werden Diagnosen übertrieben und verzerrt. Was man nicht mit einer Ziffer verschlüsseln kann und als Code zur Abrechnung eintragen, das gibt es nicht mehr in der Medizin, das fällt unter den Tisch."

"Was haben zehn Diabetiker gemeinsam?"

Längst werden niedergelassene Ärzte und Krankenhausmitarbeiter darin geschult, die Beschwerden eines Kranken mit möglichst vielen Diagnosen zu versehen, sodass sich mehr Posten in Rechnung stellen lassen. Hontschik zeigt die vier- bis sechsstelligen Ziffernfolgen, die sich über ein Dutzend Zeilen hinziehen, mit denen er die Behandlung eines Patienten mit einer schmerzhaften Kontraktur der Hand sowie die folgende Operation abrechnet.

Das Beispiel hat nicht nur anekdotischen Charakter, sondern zeigt, dass sich hinter den medizinischen Termini und Abrechnungsziffern die Lebenswirklichkeit der Patienten oft nicht wiederfindet. Der geschilderte Patient ist Zahntechniker, für ihn ist es beruflich existenziell, feinmotorische Detailarbeiten ausführen zu können.

Für andere Patienten mit dieser Kontraktur ist es vielleicht wichtiger, keine Schmerzen mehr zu haben oder weiterhin einfache Lasten heben zu können. "Was haben zehn Diabetiker schon gemeinsam außer einem gestörten Zuckerstoffwechsel?", fragt Hontschik. Anders gesagt: Gibt die Medizin den so unterschiedlichen Bedürfnissen und Behandlungszielen der Patienten überhaupt genügend Raum?

Einmal hoher Blutdruck, immer hoher Blutdruck?

"Es gibt eine Geschichte der Krankheit, die zumeist technisch naturwissenschaftlich erfasst wird - und die ist oft eine ganz andere als die Geschichte des kranken Menschen", sagt die Frankfurter Allgemeinmedizinerin Gisela Volck. "Und in der Beziehung zwischen Arzt und Patient wird wieder eine neue Geschichte daraus."

Was das in der Praxis bedeutet, zeigen alltägliche Beispiele. Ein Patient kommt mit Kniebeschwerden zum Arzt, dabei wird der Blutdruck gemessen. Der Patient ist unruhig, der Blutdruck erhöht. Fortan wird im Arztbrief die Diagnose "Arterielle Hypertonie" festgehalten, bei einer späteren Aufnahme im Krankenhaus wie auch nach der Überweisung zum Facharzt taucht sie immer wieder auf. Die Kniebeschwerden sind längst verschwunden, doch der Mann ist zum Hochdruckpatienten geworden - und wird irgendwann auch dagegen behandelt.

Zunehmend tauchen in den Diagnose-Listen, die traditionell oben in den Arztbriefen stehen, Begriffe auf, die keine Krankheit und auch keine Beschwerden widerspiegeln, sondern auffällige Laborbefunde oder Normabweichungen im Röntgenbild.

Hyperurikämie beispielsweise bezeichnet einen erhöhten Harnsäurespiegel, irgendwann könnte sich daraus Gicht entwickeln. Könnte, muss aber nicht - von einer Krankheit sollte man daher nicht sprechen. Ähnliches gilt für die Hypercholesterinämie. Erhöhte Blutfette allein sind noch keine Krankheit, müssen auch nicht zu einer werden - die Hälfte aller Patienten mit Herzinfarkt hat normale Cholesterinwerte.

Am Beispiel der immer weiter gesenkten Grenzwerte für Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht zeigt sich, wie die Ausweitung der Diagnosen die Menschen flächendeckend krank macht. Nimmt man die derzeitigen Obergrenzen für Cholesterin und Blutdruck ernst, würden drei Viertel aller Erwachsenen darüber liegen. Als die amerikanischen Gesundheitsbehörden Ende der 1990er-Jahre die Grenze zum Übergewicht vom Body-Mass-Index 27,5 auf 25 absenkten, wurden auf einen Schlag allein in den USA 40 Millionen Gesunde zu potenziellen Risikoträgern.

Zu viel überflüssige Medizin

Der Sozialmediziner David Klemperer von der Technischen Hochschule Regensburg weist darauf hin, dass der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen kürzlich den "nicht indikations- und situationsbezogenen Einsatz medizinischer Leistungen als zentrales Problem der Medizin" bezeichnet hat.

Auf Deutsch: zu viel falsche und zu viel überflüssige Medizin. Klemperer kennt absurde Beispiele für Über- und Fehlversorgung, etwa dass im Emsland die Gebärmutter doppelt so häufig entfernt wird wie in Aurich, Leistenbrüche an der Mosel viermal häufiger im Krankenhaus operiert werden als in Regensburg und in Siegen und Lüchow-Dannenberg vier- bis fünfmal so viele Bypässe gelegt werden wie in Nordfriesland, Jena oder im Schwarzwald.

"Ärzte überschätzen oft den Nutzen einer Behandlung", sagt Klemperer. "Zu viel Medizin droht besonders dann, wenn eine Therapie neu und teuer ist, früher beginnt und technisch komplex erscheint." Derartige Denkmuster sind bei Ärzten wie Patienten verbreitet - dazu zählt auch: mehr ist besser als weniger, behandeln ist besser als nicht behandeln. "Das richtige Maß muss das Ziel sein, auch wenn das nicht einfach ist", sagt Klemperer. "Es gibt aber fast immer zwei Optionen, und darüber sollten Patienten fair aufgeklärt werden."

Diagnosen wandeln sich mit technischen Neuerungen, Beispiel Herzinfarkt: Kurzatmigkeit, der linksseitige Brust- und Schulterschmerz und Engegefühl wurden weitgehend ersetzt durch eine Troponin-Erhöhung im Blut und die Verengung des Gefäßes in der Koronarangiografie. Dass dem Bild mehr geglaubt wird als tausend Worten der Patienten und dies zu mancher Überdiagnose führt, hat der Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke als okulostenotischen Reflex der Kardiologen bezeichnet: Kaum sehen sie eine Engstelle, ist das für sie gleichbedeutend mit der "gesicherten" Diagnose.

Das Erleben der Kranken und die Zuschreibungen der Ärzte passen oft nicht zueinander. Die Patienten finden sich nicht in dem wieder, was der Arzt ihnen auf den Leib zusagt. Leiden findet in der Parallelwelt statt. Ärzte der Uexküll-Akademie fordern deshalb, in Arztbriefen auch eine Rubrik für das subjektive Erleben der Kranken einzuführen und gezielt danach zu fragen. "Wir müssen uns viel mehr überlegen, was für den Patienten im Mittelpunkt steht und welche Ziele er mit der Behandlung erreichen möchte", sagt Hontschik.

Die Beliebigkeit von Diagnosen zeigt sich besonders am Beispiel "moderner" Krankheiten. Als "Behandlung auf der Suche nach einer Diagnose" bezeichnete der Medizinsoziologe Elmar Brähler das Aufkommen der Versteifungsoperation der Wirbelsäule.

Kranke Gesunde, gesunde Kranke

Ähnliche Interpretationen gibt es zum Aufstieg der Diagnose ADHS und dem exorbitanten Ritalin-Verkauf in der Folge. Manche Diagnosen gibt es zudem nur in Deutschland. Das Schleudertrauma kennen andere Länder nicht - und niedriger Blutdruck gilt anderswo nicht als Krankheit, sondern wird mit einem niedrigeren Versicherungsbeitrag belohnt.

Weil das Leiden immer seltener in den Diagnosen abgebildet wird, hat sich eine paradoxe Situation entwickelt. Es gibt kranke Gesunde, das heißt einen pathologischen Befund beispielsweise an der Wirbelsäule, aber der Patient hat keine Beschwerden. Auf der anderen Seite stehen gesunde Kranke. Ihnen schmerzt der Rücken fürchterlich, aber der Befund ist makellos und der Arzt kann keine Ursache finden.

David Klemperer hält guten Rat für die Praxis bereit: "Patienten sollten nur dann Diagnosen bekommen, wenn sie einen Nutzen davon haben", fordert der Internist. "Die Diagnose Demenz ist beispielsweise eine Katastrophe, weil bei der derzeitigen gesellschaftlichen Deutung des Leidens sofort soziale Ausgrenzung damit verbunden ist."

© SZ vom 26.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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