Manche Patienten leiden an idiopathischen Erkrankungen. Oder an essentiellen Störungen. Sie sind von funktionellen Leiden betroffen; oft haben die Beschwerden eine somatoforme Komponente. Diese sperrigen diagnostischen Zuschreibungen hören sich ebenso seriös wie einschüchternd an - sie bedeuten allerdings nur, dass der Arzt auch nicht weiß, was dem Patienten fehlt. Doch immerhin, das Leiden der Kranken ist mit einem medizinischen Fachbegriff versehen, die Beschwerden haben ein Etikett.
"Diagnosen sind Namen für ein unbekanntes Drama", hat Thure von Uexküll, einer der prägenden Ärzte für Psychosomatik im 20. Jahrhundert, gesagt. Die verborgenen Wirklichkeiten hinter den diagnostischen Zuschreibungen waren Thema der Jahrestagung der Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin am vergangenen Wochenende in Frankfurt. Was Diagnosen verraten - und zwar sowohl über den Patienten als auch über den Arzt und den Zeitgeist - wollten die Teilnehmer erkunden, die sich dafür einsetzen, psychosomatische Prinzipien in jedem Fachgebiet der Medizin zu verankern.
Dass medizinische Diagnosen nicht immer die passende Beschreibung für eine Krankheit, sondern häufig interessengeleitete Konstruktionen sind, macht der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik deutlich. "Diagnosen sind längst nicht mehr rein medizinisch motiviert, sondern ökonomisch, politisch-kulturell oder historisch", so der Arzt. "Um besser abrechnen zu können, werden Diagnosen übertrieben und verzerrt. Was man nicht mit einer Ziffer verschlüsseln kann und als Code zur Abrechnung eintragen, das gibt es nicht mehr in der Medizin, das fällt unter den Tisch."
"Was haben zehn Diabetiker gemeinsam?"
Längst werden niedergelassene Ärzte und Krankenhausmitarbeiter darin geschult, die Beschwerden eines Kranken mit möglichst vielen Diagnosen zu versehen, sodass sich mehr Posten in Rechnung stellen lassen. Hontschik zeigt die vier- bis sechsstelligen Ziffernfolgen, die sich über ein Dutzend Zeilen hinziehen, mit denen er die Behandlung eines Patienten mit einer schmerzhaften Kontraktur der Hand sowie die folgende Operation abrechnet.
Das Beispiel hat nicht nur anekdotischen Charakter, sondern zeigt, dass sich hinter den medizinischen Termini und Abrechnungsziffern die Lebenswirklichkeit der Patienten oft nicht wiederfindet. Der geschilderte Patient ist Zahntechniker, für ihn ist es beruflich existenziell, feinmotorische Detailarbeiten ausführen zu können.
Für andere Patienten mit dieser Kontraktur ist es vielleicht wichtiger, keine Schmerzen mehr zu haben oder weiterhin einfache Lasten heben zu können. "Was haben zehn Diabetiker schon gemeinsam außer einem gestörten Zuckerstoffwechsel?", fragt Hontschik. Anders gesagt: Gibt die Medizin den so unterschiedlichen Bedürfnissen und Behandlungszielen der Patienten überhaupt genügend Raum?
Einmal hoher Blutdruck, immer hoher Blutdruck?
"Es gibt eine Geschichte der Krankheit, die zumeist technisch naturwissenschaftlich erfasst wird - und die ist oft eine ganz andere als die Geschichte des kranken Menschen", sagt die Frankfurter Allgemeinmedizinerin Gisela Volck. "Und in der Beziehung zwischen Arzt und Patient wird wieder eine neue Geschichte daraus."
Was das in der Praxis bedeutet, zeigen alltägliche Beispiele. Ein Patient kommt mit Kniebeschwerden zum Arzt, dabei wird der Blutdruck gemessen. Der Patient ist unruhig, der Blutdruck erhöht. Fortan wird im Arztbrief die Diagnose "Arterielle Hypertonie" festgehalten, bei einer späteren Aufnahme im Krankenhaus wie auch nach der Überweisung zum Facharzt taucht sie immer wieder auf. Die Kniebeschwerden sind längst verschwunden, doch der Mann ist zum Hochdruckpatienten geworden - und wird irgendwann auch dagegen behandelt.