Wandbilder:Alles Fassade

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Manche wirken noch immer, andere erleben eine zweite Enthüllung. Wandbilder prägten früher das Stadtbild Berlins in West und Ost. Heute schwinden die meisten dahin.

Von Lars Klaaßen

Aus dem Gebäude der Wintersteinstraße 20 in Berlin-Charlottenburg scheint sich ein gigantischer Dampfer zwischen zwei Fassaden auf die Straße zu schieben. Das imposante Bild zog öfters Blicke von Autofahrern auf sich, die daraufhin mit einer Verkehrsinsel kollidierten. Große Bilder an Hausfassaden, die in den Stadtraum wirken sollten, gab es sowohl in Ost- als auch in Westberlin - allerdings in unterschiedlicher Art und Weise. In der Hauptstadt der DDR wurden vor allem Neubauten mit solcher Kunst am Bau verziert, die ganz im Sinne des Staates Botschaften unters Volk bringen sollten. In Westberlin waren es - zumindest am Anfang - "Systemkritiker", die Farbe an die Wände brachten, dort vor allem an Brandwänden von Altbauten.

Mit der öffentlichen Förderung wurden kritische Motive seltener

Haushohe Darstellungen wie der Dampfer von Gert Neuhaus finden sich noch an vielen anderen Stellen im Westteil Berlins. Die meisten entstanden in den 1970er- und 1980er-Jahren. Flächen waren dafür mehr als ausreichend vorhanden: Im Zweiten Weltkrieg hatten Bomben Lücken in die ehemals geschlossenen Altbaublöcke gerissen, sodass viele Brandwände frei lagen. Solche Lücken sind in der Wiederaufbauphase bewusst erhalten worden. "Licht und Luft" lautete das Leitbild der damaligen Stadtentwicklung. Hinzu kamen Abrisse, um Platz für breite Straßen zu schaffen.

"Was sich damals auf Berlins Fassaden äußerte, war das Unbehagen über die Unwirtlichkeit der Stadt. Wer diese Fassadenbilder seinerzeit schuf, war unmittelbar betroffen", erinnert sich Werner Brunner, der selbst - unter anderem mit der Künstlergruppe "Ratgeb" (1977 - 1985) - viele Fassadenbilder in Berlin geschaffen hat. "Deshalb war uns auch die Auseinandersetzung mit jenen Menschen, die unsere Bilder jeden Tag sehen werden, wichtig."

In der Neuköllner Richardstraße etwa setzte Brunner sich mit den Anwohnern zusammen. Die Familien böhmischer Abstammung sollten ihre Wünsche äußern. Die Debatte führte zu einem Fassadenbild, das die Geschichte der Einwanderer aus dem 18. Jahrhundert darstellt, aber auch die Gegenwart ihrer heute dort lebenden Nachfahren: Auf einer breiten Theaterbühne sieht man den Zug der Einwanderer, einem Denkmalrelief nachempfunden. Einige der Nachbarn, die über den Entwurf mitdebattiert hatten, sind in diesem Bild porträtiert.

1978 begann die Westberliner Verwaltung, sich systematisch mit Wandgestaltung zu befassen. Mit jährlich neu vergebenen drei Millionen Mark wurden offene Wettbewerbe finanziert. Dabei hatten zunächst ausgerechnet kriminalisierte "Instandbesetzer" verfallener Altbauten die Fassadenmalerei in Berlin etabliert. Zu den prominentesten Beispielen der Szene zählt bis heute das Tommy-Weisbecker-Haus in der Wilhelmstraße 9. Auf dem Bild "Kabylon" entsteht ein Turm aus Fernsehern - eine Warnung vor kommendem Medienrummel und Reizüberflutung. Dieses Bild haben Ende der 1980er-Jahre Trebegänger gemalt, unter Anleitung von Brunner, im Rahmen der Internationalen Bauausstellung.

Die erste öffentliche Debatte hatte Ben Wagin 1975 mit einem Bild in der Bachstraße, unmittelbar neben dem S-Bahnhof Tiergarten, provoziert. Die Farben sind mittlerweile weitgehend abgeblättert, vom Motiv ist fast nichts mehr zu erkennen: Das Auspuffrohr eines Motorrads bringt einen Baum zum Schreien, darüber ist ein Schiff zu sehen, das neue Bäume heranschafft - eine großformatige Auseinandersetzung mit Umweltzerstörung.

Mit der öffentlichen Förderung wurden kritische Motive seltener, das schöne Bild war gefragt. Dabei musste die Kunst sich bisweilen finanziellen Zwängen beugen. Neuhaus etwa, der neben dem Dampfer noch viele weitere Fassaden in Berlin gestaltete, schuf in der Charlottenburger Zillestraße 100 einen haushohen "Reißverschluss": Im oberen Drittel geöffnet, legt dieser eine Gründerzeitfassade frei - gepinselte Illusion. Dass der Reißverschluss nicht weiter heruntergezogen wurde, war Sparzwängen geschuldet. Der Künstler, 1979 von einer Wohnungsbaugesellschaft mit der Bemalung der öden Mauer beauftragt, hatte erst einen anderen Entwurf vorgelegt: einen Reißverschluss, hinter dem oben nur ein wenig Brandwand zu sehen war. "Zu teuer", sagten die Bauherren. Die Lösung bestand darin, alles umzudrehen und nur den kleinen oberen Ausschnitt zu bemalen. Das war billiger und schon in knapp fünf Wochen fertig.

Etwa 480 Brandwände wurden in Westberlin bis zum Mauerfall gestaltet, mehr als 200 sind (fast) verloren. Ihre Lebensdauer beträgt je nach Putzbeschaffenheit und Farbmaterial zum Teil nur bis zu 20 Jahre. Nach dem Fall der Mauer sind zudem viele Baulücken geschlossen und viele Hauswände mit Wärmedämmung versehen worden. Auch unbeachteter, baumhoher Wildwuchs verdeckt Wandbilder und macht sie uneinsehbar. Die finanzielle Förderung von Fassadenmalerei machte in den 1990er-Jahren dem Aufbau Ost Platz. Heute wird die Gestaltung von Wänden fast ausschließlich privat finanziert. "Außerdem ist Berlin mittlerweile, wie viele andere Städte auch, ohnehin wieder lebensfreundlicher geworden", sagt Brunner. "Dadurch haben wir allerdings ein anderes Problem: Aus den nunmehr schicken Wohnquartieren werden die sozial benachteiligten verdrängt. Wer sollte sich nun noch grundlegend systemkritisch äußern?"

Ironie der Geschichte: Die Fassadenbilder Ostberlins entstanden seinerzeit vor allem als Zeichen für die Errungenschaften und Visionen des Systems. "Deren Installation lag ein staatlicher Gestaltungswille zugrunde, der in gesetzlichen Grundlagen festgeschrieben wurde", sagt Dirk Schermer. Der Berliner Kunsthistoriker dokumentiert mit seinen Büchern unter anderem die Kunst am Bau und die Stadtgestaltung der sozialistischen Moderne. Nach dem Mauerfall waren die DDR-Plattenbauten zunächst verpönt. Durch die ideologische Brille West betrachtet, befanden sich auch die Bilder an ihren Fassaden auf der anderen Seite. Zudem bereiteten auch hier Abrisse ganzer Häuserblöcke und Wärmedämmplatten vielen Kunstwerken ein Ende. "Ihr kunsthistorischer Wert wird erst jetzt langsam wiederentdeckt", sagt Schermer. "Sie zeugen vom Leitbild des sozialistischen Realismus der Sowjetunion, wobei sich die Ausdrucksformen im Laufe der Jahrzehnte deutlich änderten."

Wärmedämmplatten bereiteten vielen Kunstwerken ein Ende

In den 1950er-Jahren waren reich verzierte Fassaden im Stil der nationalen Traditionen angesagt. Sie wurden geschmückt mit Bildern, die einen dezidiert propagandistischen und erzieherischen Anspruch hatten. Seinerzeit schuf Max Lingner am Haus der Ministerien das Wandbild "Die Bedeutung des Friedens für die kulturelle Entwicklung der Menschheit und die Notwendigkeit des kämpferischen Einsatzes für ihn". Das Gebäude war unter dem NS-Regime als Reichsluftfahrtministerium gebaut worden (und beherbergt heute das Bundesfinanzministerium). Die uniformierten Knaben und Mädchen auf dem Bild ließen sich auch der Zeit vor 1945 zuordnen. Dass es sich um ein Bild aus frühen DDR-Zeiten handelt, sieht man als Laie vor allem noch am Parteigenossen, der Anzug statt Uniform trägt.

Nach den ersten Jahren des Wiederaufbaus wandelte sich der Stil erstmals deutlich. Die individuellen Vorzüge des Sozialismus rückten in den Vordergrund. "Bilder von fleißigen Bauarbeitern, Trümmerfrauen, Stahlwerkern und Bauern wichen in den 1960er- und 1970er-Jahren nach und nach einer anderen Fortschrittseuphorie", berichtet Schermer. "Bilderzyklen thematisierten zunehmend das Schlagwort von der wissenschaftlich-technischen Revolution in der DDR, sie prophezeiten den ideologischen und technologischen Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus."

Als Ingenieure einer siegreichen Zukunft präsentierten sich Wissenschaftler in weißen Kitteln, die elektronische Datenverarbeitung vernetzte nach und nach verschiedene Produktionsbereiche, Kosmonauten eroberten den Weltraum und moderne Kampfjets verteidigten das bereits Erreichte. "Es galt einerseits, die Ziele einer modernen Gesellschaft aufzuzeigen", sagt Schermer, "andererseits versuchten Stadtplaner und Künstler mit den Fassadenbildern der kritisierten Monotonie im Stadtbild entgegenzuwirken."

Mitte der 1970er-Jahre reduzierten sich die Wandbilder zu einfacheren Darstellungen. "Ursache hierfür war, neben ökonomischen Zwängen, die Erkenntnis der Parteiführung, dass der gewünschte Propagandaeffekt mithilfe stark politisierter Wandbilder ausblieb", sagt Schermer. "Die Künstler erhielten die Möglichkeit, die entsprechenden Wandflächen freier zu gestalten." Auf geometrische Grundformen reduzierte Darstellungen, Tier- und Pflanzenmotive, an Hauseingängen oder Giebeln bewirkten zudem eine bessere Orientierung in den vom uniformen Wohnungsbau geprägten Wohngebieten.

Die Zeitzeugen der ostdeutschen Nachkriegsmoderne sind seltener geworden, mittlerweile aber wieder stärker in den Fokus des Interesses gerückt. So wurde 2010 der Abriss eines ehedem als Sitz des DDR-Ministeriums für Bauwesen genutzten Zweckbaus kaum wahrgenommen - allerdings mit einer Ausnahme: "Der Mensch, das Maß aller Dinge", ein 90 Quadratmeter großes Fassadenbild Walter Womackas, sollte nicht verloren gehen. Womacka, Vizepräsident des DDR-Künstlerverbandes und Rektor der Kunsthochschule Weißensee, hatte 1964 auch die "Bauchbinde" am "Haus des Lehrers" am Alexanderplatz gestaltet, das heute unter Denkmalschutz steht: "Unser Leben", ein 875 Quadratmeter großer Wandfries. "Der Mensch ..." wurde geborgen und fand zurück ins Stadtbild. Seit seiner zweiten Enthüllung 2013 blickt er von einem Plattenbau über die Stadt.

© SZ vom 04.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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