Wall Street:Der finsterste Tag

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19. Oktober 1987: Warum die Kurse stürzten, Greenspan kurioserweise an eine Aktienrally glaubte - und wie die amerikanische Finanzwelt eine Wirtschaftskrise verhinderte.

Nikolaus Piper

Es war klar, dass an diesem Montag etwas passieren würde. Nach Jahren des Booms waren die Aktienkurse weltweit unter Druck geraten. Am Freitag, dem 16. Oktober, wurden an der New York Stock Exchange 338 Millionen Aktien gehandelt, mehr als je zuvor in der Geschichte.

(Foto: Foto: AP)

Der Dow-Jones-Index verlor 108 Punkte, womit die Börsenwoche an der New York Stock Exchange (Nyse) die schlechteste seit Mai 1940 war. "Die Märkte suchten nach dem Ausstieg," erinnert sich John Phelan, damals Chef der Nyse.

Blaulicht an der Wall Street

Der 19. Oktober 1987 begann schon mit schlechten Nachrichten. Die USA hatten eine iranische Ölplattform im Persischen Golf bombardiert, was zu höheren Ölpreisen führen würde.

US-Finanzminister James Baker hatte zudem öffentlich die Deutsche Bundesbank wegen ihrer Hochzinspolitik angegriffen. Das wurde an der Wall Street so verstanden, dass Washington nichts gegen den weiteren Verfall des Dollar-Kurses unternehmen würde - ein weiterer Stress-Faktor.

Bei Öffnung der Wall Street wurden die Händler förmlich überrollt von Verkaufsaufträgen: 500 Millionen Dollar sofort, 450 Millionen Dollar eine halbe Stunde später. Und weil die Computerisierung der Börse damals gerade erst begonnen hatte, waren alle Systeme hoffnungslos überfordert.

Weil Kaufaufträge fehlten, gab es für 200 Aktien zunächst gar keine Eröffnungskurse. Der Handel mit Eastman Kodak, damals ein Schwergewicht im Dow Jones, konnte erst um 10.40 Uhr beginnen, Exxon-Titel kamen noch sieben Minuten später dran. Bis 11 Uhr hatte der Dow bereits 200 Punkte verloren, doch dann drehte sich der Wind zunächst, die Kurse stiegen wieder und der Index machte die Hälfte seiner Verluste wieder wett.

Genau zu der Zeit beschloss in Washington Alan Greenspan, seit August neuer Präsident der Notenbank Fed, wie geplant, nach Dallas zu fliegen, um vor dem amerikanischen Bankenverband seine erste wichtige Rede zu halten. Kurzzeitig hatte er überlegt, Reise und Rede abzusagen. Doch dies hätte ausgesehen, als sei die Notenbank in Panik, sagte er sich. Auf dem Flughafen in Dallas holte ihn abends ein Mitarbeiter der texanischen Landeszentralbank ab.

Überforderte Systeme

"Wie war der Aktienmarkt heute?" fragte ihn Greenspan. "Er hat fünf null acht verloren." - "Wunderbar, das war ja eine Rally", antwortete der Fed-Chef, der glaubte, es sei von einem Verlust um 5,08 Punkte die Rede.

Erst als er in das entsetzte Gesicht des Bankers blickte, war ihm klar, was passiert war: Der Dow Jones hatte 508 Punkte oder 22,5 Prozent verloren, der größte Verlust seiner Geschichte, schlimmer als am "Schwarzen Donnerstag"1929, der die Weltwirtschaftskrise auslöste.

Was Greenspan im Flugzeug nicht mitbekommen hatte: Gegen 14 Uhr waren die Kurse erneut unter Verkaufsdruck geraten. Und jetzt gab es kein Halten mehr. Ein Börsenhändler brach ohnmächtig auf dem Parkett zusammen. In der letzten halben Stunde vor Handelsende verlor der Dow Jones 200 Punkte.

Und als um 16.30 die Schlussglocke läutete, war der das wichtigste Aktienbarometer der Welt von 2247 auf 1739 Punkte abgestürzt.

Das Wertpapiervermögen, das dabei vernichtet wurde, entsprach ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt Frankreichs. IBM-Aktien brachen um 23 Prozent ein, Eastman Kodak um 29 Prozent und Westinghouse um 33 Prozent.

Noch am Abend berief Börsenchef John Phelan eine Pressekonferenz ein. Dabei machte er schonungslos klar, wie ernst die Lage war: Die Systeme der Börse waren überfordert, der Finanzmarkt stand zeitweise nahe des Kollapses und der nächste Tag würde noch gefährlicher werden. "Wenn der Dow am Dienstag nochmals 500 Punkte verloren hätte, wären mehrere große Finanzinstitute vor dem Zusammenbruch gestanden," sagt Phelan heute.

Der Dow Jones seit 1901 (Foto: Grafik: SZ)

Nach der Pressekonferenz standen hunderte von Menschen auf der Wall Street und der Broad Street, so als warteten sie auf ein Katastrophe. Polizeibeamte hielten die Menge zurück, im Blaulicht ihrer Autos sah die Börse aus, als sei sie der Schauplatz eines Verbrechens.

Wertlose Versicherungen

Der Dienstag begann erneut schlimm: Die Kurse fielen weiter, obwohl Notenbank-Chef Greenspan noch vor Börseneröffnung erklärt hatte, dass die Fed "als Quelle der Liquidität zur Unterstützung des Wirtschafts- und Finanzsystems" bereitstehen würde. "Alles war sehr ruhig am Vormittag," erinnert sich Phelan. "Ich wusste nur nicht, ob wir uns in der Mitte eines Tornados befanden, oder ob der Tornado schon vorbei war."

Dann, gegen 13.30 Uhr drehte sich die Stimmung, die Kurse stiegen plötzlich wieder. Damit war das Schlimmste vorüber, am Mittwoch erreichte der Dow Jones bereits wieder 2028 Punkte.

Jetzt begannen die Eingriffe von Notenbank und Börse zu wirken: Gerry Corrigan, Chef der Federal Reserve Bank of New York, drängte die großen Banken in unzähligen Telefongesprächen, offensiv Kredite aufzunehmen. Mindestens ebenso wichtig war eine andere, kaum bekannte Initiative. Roger Kubarych, damals Chefvolkswirt der Nyse und heute bei Unicredit, sagt: "John Phelan hat große Firmen dazu gebracht, Aktien-Rückkauf-Programme anzukündigen. Das hart die Wende gebracht und den Zusammenbruch verhindert."

Bis heute streiten sich die Experten darüber, warum es zum Börsenkrach kam. Da war der neue Computerhandel, der die Handelsvolumina in die Höhe trieb. Es gab Portfolio-Versicherungen, neue Finanzinstrumente, mit denen sich Börsenhändler gegen Kursverluste absicherten.

Das förderte deren Leichtsinn; niemand bedachte, dass die Versicherung wertlos wird, wenn sie plötzlich von allen gleichzeitig in Anspruch genommen wird. Schließlich spielte der junge Markt mit Finanzderivaten eine Rolle: "Aktien- und die Derivatemärkte mussten erst lernen, miteinander umzugehen," sagt Kubarych.

© SZ vom 19.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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