Wall Street:Der Absturz

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Die Wall Street: Das war der Stolz Amerikas. Das Herz des Kapitalismus. Der Ort, der die Spielregeln der Weltwirtschaft bestimmte. Die Wall Street, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen: Das war einmal.

Ulrich Schäfer

Eine stolze Bank nach der anderen ist gekippt. Sie sind zusammengebrochen in der größten Finanzkrise, die die Welt seit 80 Jahren gesehen hat. Innerhalb von nur sechs Monaten sind drei der fünf großen Investmenthäuser untergegangen. Im März musste der amerikanische Staat bei Bear Stearns einspringen. Vergangene Woche trudelte Lehman Brothers in die Pleite. Und in der Nacht zu Montag wurde auch noch Merrill Lynch eilig verkauft. Zwei große Investmentbanken sind übrig geblieben: Goldman Sachs und Morgan Stanley. Niemand weiß, was aus ihnen wird. Die Geldhäuser selber behaupten, dass sie stark genug seien, die Krise zu überstehen. Aber das haben die Kollegen der drei anderen Häuser vor einem halben Jahr auch behauptet.

Symbol des US-Kapitalismus: Die New York Stock Exchange (NYSE) in New York. (Foto: Foto: AFP)

Der Aufstieg und der Fall der großen Investmentbanken zeigen, wohin Gier führen kann - auf dem Weg nach oben, aber auch nach unten. Amerikas Aufstieg zur größten Wirtschaftsnation der Welt wäre ohne die Geldmaschine der Wall Street unmöglich gewesen. In den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Washington die Finanzhäuser und die Börsen von ihren Fesseln befreit. Seither haben sich die Kapitalmärkte zu dem am stärksten globalisierten Handelsplatz entwickelt. Sie haben das Geld beschafft, damit die Welt schneller wachsen kann. Sie haben zugleich die Unternehmen verändert. Heute folgen Konzernchefs dem Takt, den Analysten vorgeben, Hedgefonds entmachten Vorstände, und Heuschrecken-Investoren fleddern Traditionsfirmen.

Handel in Lichtgeschwindigkeit

Gehandelt wird auf diesem globalen Finanzmarkt in Lichtgeschwindigkeit. Angeboten werden hochkomplizierte Produkte, die selbst viele Banker kaum noch verstehen. Diese Instrumente, die vor allem an der Wall Street erfunden wurden, sollten das Weltfinanzsystem sicherer machen - doch sie haben es unsicherer werden lassen. Die Banker haben Kredite verpackt und weiterverkauft, sie haben Wertpapiere zerlegt und neu zusammengesetzt. Sie haben behauptet, dass man Risiken nur auf möglichst viele Investoren verteilen müsse, damit sie für niemanden zur Gefahr werden. Doch die Finanzkrise zeigt, dass die Risiken sich dort ballen, wo sie nicht mehr sein sollten: bei den großen Banken und Fonds.

Es ist dabei eine bittere Ironie der Geschichte, dass eine der größten Gefahren derzeit von einem Finanzprodukt ausgeht, mit dem man sich gegen Pleiten versichern kann: den sogenannten Credit Default Swaps. Erfunden wurden diese Papiere erst vor wenigen Jahren. Banken und Fonds nutzten sie schon bald nicht nur dazu, sich gegen Risiken zu versichern, sondern auch dazu, auf die Pleite eines Unternehmens zu wetten. Der legendäre Investor Warren Buffett bezeichnete diese Papiere einmal als "finanzielle Massenvernichtungswaffen".

Bis ins Mark getroffen

Der Sturz der Investmenthäuser trifft Amerika ins Mark. Er zeigt, dass der Boom dieses Landes zu einem großen Stück auf der Selbsttäuschung beruhte, dass Geld sich beliebig vermehren ließe. Und dass es im Überfluss vorhanden sei. Die Wall Street hat das ganze Land mit Geld versorgt, die Unternehmen, die hochverschuldeten Immobilienbesitzer und die ebenfalls hochverschuldete Regierung. Die Banken und Fonds haben den Politikern in Washington zudem mehr Geld gespendet als irgendjemand sonst; niemand, der ins Weiße Haus einziehen will, kommt ohne ihre finanziellen Gaben aus - weder John McCain noch Barack Obama.

Die Wall Street hat eine schier unerschöpfliche Geldmaschine befeuert, die nun nicht mehr funktioniert. Seit die Blase am amerikanischen Immobilienmarkt im Frühjahr 2007 geplatzt ist, entfaltet sich eine beispiellose Krise. Und deshalb funktioniert auch Amerikas Wirtschaft nicht mehr wie gewohnt. Das Land steht vor einer Rezession, wie es sie seit langem nicht erlebt hat. Und die ganze Weltwirtschaft leidet mit.

Die Amerikaner kämpfen gegen diese Krise so, wie sie auch gegen den globalen Terror kämpfen. Sie mobilisieren alle Kräfte, die sie haben. Sie stehen geschlossen zusammen. Sie tun dies in der festen Überzeugung, dass es hier um eine nationale Aufgabe geht: um Amerikas ökonomische Sicherheit, die genauso wichtig ist wie die militärische. Gemeinsam haben Staat und Banken im März die trudelnde Investmentbank Bear Stearns aufgefangen. Gemeinsam haben sie am Wochenende versucht, Lehman Brothers zu retten - und sind damit gescheitert. Der Sturm an der Wall Street kann etwas Reinigendes haben. Wenn Amerika begreift, dass es der Finanzindustrie andere Regeln vorgeben muss, nützt das der ganzen Welt. Das Beben an der Wall Street kann aber auch zur Bedrohung werden: Wenn die Vereinigten Staaten - wie schon im Krieg gegen den Terror - sich nun noch mehr mit sich selbst beschäftigen, könnten die anderen Nationen dies ebenfalls tun. Sie könnten sich abschotten, anstatt die Probleme des Weltfinanzsystem gemeinsam zu lösen. Ein Rückfall würde die Krise nur weiter verschärfen.

© SZ vom 16.09.2008/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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