Türkei:Schuss ins Blaue

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Mit 170 Euro in die Selbstständigkeit. Ein Türke nutzt aus, dass seine Landsleute Waffennarren sind.

Kai Strittmatter

Die Nacht, die Kerem Kiziltepe zum Unternehmer machte, war eine der schlimmsten seines Lebens. Es war der 17. August 1999. Die Nacht des großen Erdbebens. Kiziltepe war Bauarbeiter, schlief in seiner Unterkunft, als die Erde bebte und ringsherum die Häuser einfielen.

An der Strandpromenade von Karamürsel, zwei Busstunden entfernt von Istanbul, lässt Kerem Kiziltepe Kunden auf Ballons schießen. (Foto: Foto: ttt)

Fast 30.000 Menschen starben damals in der Westtürkei, 600 waren es in Karamürsel an der Küste des Marmarameers, zwei Busstunden von der Metropole Istanbul entfernt. Kiziltepe blieb unverletzt wie auch seine Familie, aber für ihn stand fest: Von nun an würde er keine Minute mehr auf Baustellen verbringen. Kiziltepe machte sich in Karamürsel selbständig.

"Eigentlich war es ganz leicht"

Ein großer Schritt für einen kleinen Kurden aus dem Osten des Landes, aus der Stadt Mus, weit hinten in Anatolien, dort wo einst der seldschukische Sultan Alparslan 1071 der byzantinischen Armee den entscheidenden Schlag versetzte und das Land für die türkischen Nomaden öffnete.

"Aber eigentlich war es ganz leicht", sagt Kiziltepe. Alles, was er brauchte, waren 300 Lira, etwa 170Euro. Die lieh er sich bei Verwandten. Dann kaufte er sich von dem Geld zwei alte Luftgewehre und eine Pistole, dazu ein paar Tüten Luftballons und eine Schnur. Fertig. Und die Lizenz? "Lizenz? Was für eine Lizenz?", fragt Kiziltepe, und sein Erstaunen wirkt echt. Also gut, keine Lizenz.

Ein paar Verwandte helfen ihm: Neffen wie der kleine Dogan, der die Gewehre nachlädt und den Kunden reicht, wenn Kiziltepe eine Sommergrippe plagt, so wie heute, an diesem heißen Augusttag. Oder Dogans Brüder, die die Luftballons im Abstand von 20 Zentimetern an eine Schnur knüpfen und dann rausschwimmen ins Meer, um die Schnur dort mit Hilfe von Steinen parallel zur Küste zu verankern. Fertig ist der Schießstand.

Wichtig ist das Wochenende

Es sieht einfacher aus, als es ist: Die Wellen heben die Ballone hoch und runter. Eine bunte, schaukelnde Provokation für die schießfreudigen Türken. Dies ist das Land, dessen Männer Fußballsiege und Hochzeiten feiern, in dem sie - manchmal mit Platzpatronen, öfter aber mit scharfer Munition - in die Luft schießen. Das Land, in dem sich neugewählte Parlamentsabgeordnete in Ankara als Willkommensgeschenk eine Pistole aussuchen dürfen. Man sieht, wie es die Männer kitzelt, die an der Promenade herbeischlendern zu Kiziltepes Luftballons.

Das beste Geschäft macht Kiziltepe am Wochenende. Dann kommen die Soldaten auf Freigang, und wenn er Glück hat, stacheln sie sich gegenseitig zum Wettschießen an. Dann kann er auch schon mal 50 Lira, also 28 Euro, an einem Tag nach Hause tragen. Sonst bleibt nicht allzu viel übrig, an manchen Tagen nur 10 oder 20 Lira. Aber, sagt er, seine beiden Söhne arbeiten ohnehin schon selbst. Vielleicht ist Kiziltepe einfach zu billig: Zehn Schüsse für zwei Lira - in Istanbul verlangen sie mehr als das Doppelte dafür.

Vielleicht ist er auch einfach zu ehrlich: "Weißt du, andere, die verstellen die Kimme ein wenig, sodass du auf jeden Fall danebenschießt. Das habe ich noch nie gemacht." Viel los ist nicht heute, Kiziltepe setzt sich auf den mitgebrachten Läufer in den Schatten, packt Brot und Käse aus. "Dafür reicht es schon", sagt er.

© SZ vom 10.09.2008/hgn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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