München:1500 Häftlinge in der Nachbarschaft

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Die Anwohner der Justizvollzugsanstalt Stadelheim schätzen das entspannte Leben an der Mauer, obwohl sie vis-à-vis mit Gefängnismauer und Wachtürmen leben.

Robert Stocker

Nein, von einer exklusiven Wohnlage kann man in dieser Gegend wirklich nicht sprechen. Graue Häuserblocks, tosender Verkehr, triste Hinterhöfe. Nichtsdestoweniger haben hinter dieser riesigen Mauer schon durchaus prominente Menschen logiert. Wenn auch nur vorübergehend und eher unfreiwillig.

Mauer und Wachturm der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. (Foto: Foto: dpa)

Zum Beispiel der Schriftsteller Ludwig Thoma, der im Jahr 1906 wegen Beleidigung von Sittlichkeitsvereinen sechs Wochen in diesen Gemäuern verbrachte; oder Graf Arco, der das Attentat auf Ministerpräsident Kurt Eisner verübte; natürlich auch der legendäre Oetker-Entführer Dieter Zlof, bis er in den Hochsicherheitstrakt nach Straubing wechselte.

Auch der ehemalige Löwen-Präsident Karl-Heinz Wildmoser senior verlebte hinter diesen Mauern einige Tage, weil er verdächtigt wurde, neben seinem Sohn einer der Drahtzieher im Schmiergeldskandal um das neue Fußballstadion gewesen zu sein. Wildmoser übrigens hat diesen Aufenthalt in guter Erinnerung. Das gesamte Personal, sagte er bei seiner Entlassung vor laufender Kamera, sei überaus freundlich gewesen, und die Verpflegung könne sich wirklich sehen lassen. Ein schönes Kompliment für ein Gefängnis, das die Giesinger gern St. Adelheim nennen. Offiziell ist es die Justizvollzugsanstalt Stadelheim.

Auch Josip Znidaric hat zur Justizvollzugsanstalt ein unverkrampftes Verhältnis. Wenn der Schuhmachermeister aus seinem bescheidenen Schaufenster lugt, blickt er frontal auf die wuchtige Gefängnismauer auf der anderen Straßenseite. Seit 1983 betreibt Znidaric in der Stadelheimer Straße 39 eine Werkstätte; orthopädisches Schuhwerk ist seine Spezialität. Das winzige Häuschen, in dem sich sein Laden befindet, hat der gebürtige Kroate gekauft.

Für das Grundstück, auf dem er auch noch eine Bienenzucht hegt, muss er Pacht bezahlen. Znidaric bezieht eine eher karge Rente, und deshalb ist er froh, wenn die Werkstätte ein paar zusätzliche Euros abwirft. Als er damals in die Stadelheimer Straße zog, war er glücklich, das winzige Anwesen kaufen zu können; der Anblick des wuchtigen Nachbarn, vor dem sich seine kleine Werkstätte duckt, stört ihn überhaupt nicht. "Die Mauer war ja vor mir da", sagt der weißhaarige Schuhmachermeister, "und auf Passanten, die zufällig vorbeikommen, bin ich eh nicht angewiesen. Ich lebe nur von Stammkundschaft."

Mit der Justizvollzugsanstalt, die zu seinem Leidwesen ebenfalls eine Schuhreparatur betreibt, sei er eigentlich noch nie in Berührung gekommen, wenn man von der Tatsache absieht, dass ihn manchmal Besucher fragen, wo der Eingang des Gefängnisses liege. Und einmal habe ein entlassener Häftling seine in zwei Kartons verpackten Habseligkeiten einfach über seinen Zaun geschmissen. Ehrlich, wie der Schuhmachermeister ist, hat er die Sachen zum Fundamt getragen. Reich geworden wäre er sowieso nicht damit.

Hätte ein entlassener Häftling hier vor hundert Jahren seine Pakete entsorgt, wären sie nicht in einem benachbarten Garten, sondern auf irgendeinem Feld gelandet. Denn damals lag Stadelheim noch auf weiter Flur. Als das Königliche Strafvollstreckungsgefängnis im Jahr 1894 erbaut wurde, befand sich das ehemalige landwirtschaftliche Areal außerhalb des Stadtgebiets.

Zunächst wurde der so genannte Nordbau errichtet, vier Jahre später der Südbau; beide Gemäuer gelten heute als historische Bausubstanz und sind teilweise denkmalgeschützt. Ost- und Westbau folgten 1958, gleichzeitig entstand eine Umwehrungsmauer um das 14 Hektar große Areal. Anfang der achtziger Jahre wurde der Neubau in Angriff genommen, in dem eine große Werkhalle und ein Handwerkerhof mit Schreinerei, Malerei, Schlosserei, Baubetrieb und Kfz-Werkstätte untergebracht sind.

Zur Justizvollzugsanstalt Stadelheim gehören auch eine Frauenabteilung und eine Jugendarrestanstalt, die sich in der Außenstelle Am Neudeck befindet. Insgesamt bietet Stadelheim mehr als 1500 Gefangenen Platz, knapp 600 Beschäftigte arbeiten in der Anstalt.

In deren Nachbarschaft fühlt sich auch Gabriele Kuhlmann wohl, die, ein paar Schritte von Znidarics Häuschen entfernt, in dem Spielwarengeschäft "Das Spielzeug" als Aushilfsverkäuferin arbeitet. Der Anblick der Gefängnismauer mit den Wachtürmen vis-à-vis habe ihr noch nie auf den Magen geschlagen, und die Polizisten, die in dieser Gegend häufig zu sehen seien, vermittelten ein Gefühl der Sicherheit.

Das Geschäft wird derzeit vergrößert; Bauarbeiter haben einen Durchbruch durch die Decke geschlagen und schaffen über eine Treppe Zugang zur darüber liegenden Wohnung, die jetzt dem Geschäft einverleibt wird. Der Besitzer, sagt die Verkäuferin, habe den gut gehenden Laden vergrößern wollen, und da habe sich die Wohnung einfach angeboten. Denn die sei seit mehr als einem Jahr leer gestanden: "Wer will die schon, bei dieser Lage."

Die Mauer hat aber auch durchaus ihre idyllischen Seiten. Zum Beispiel da, wo Wolfgang Bläsche wohnt. Der Pensionist lebt in der Amerstorffer Straße in einem Block, etwa 20 Meter von der Gefängnismauer entfernt. Doch wenn der freundliche, ältere Herr aus seinem Wohnzimmerfenster blickt, sieht er außer dem mächtigen Wall auch viel Natur: Wiesen, Blumen und hohe Bäume, welche die Mauer zum Teil verdecken.

"Seit elf Jahren lebe ich in bester Nachbarschaft mit der Mauer, es ist überaus ruhig und friedlich hier, weil die Polizei ständig präsent ist. Da schlafe ich sogar im Erdgeschoss mit offenem Fenster." Früher seien Häftlinge schon mal "flitzen" gegangen, heute sei das wegen der hohen Mauer und der modernen Überwachungsanlagen kaum mehr möglich.

Mit ein paar Stadelheim-Bewohnern ist Bläsche schon ins Gespräch gekommen, wenn sie im Umgriff des Gefängnisses arbeiten mussten. "Gut, derzeit sitzt auch der Amokläufer ein, der in dem Bus um sich gestochen hat, aber die meisten sind ja keine Schwerverbrecher." Und wenn im Fernsehen gerade ein wichtiges Fußballspiel übertragen werde, wisse er genau, wann ein Tor gefallen sei: "Dann hört man aus dem Gemeinschaftsraum einen Jubelschrei, dass das ganze Gefängnis wackelt."

© SZ vom 24.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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