Die Deutschen und der Verfall der Zahlungsmoral:Knausern, bis der Anwalt kommt

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Viele Privatleute und Unternehmen begleichen Rechnungen gar nicht oder verspätet - jetzt will die Bundesregierung eingreifen.

Uwe Ritzer

Der ganze, leere Notizblock werde nicht reichen, "um alle Schweinereien aufzuschreiben", sagt Angelika Stöhr und knallt demonstrativ einen Stapel weißes Papier zusätzlich auf den Tisch.

Durch die Fenster des Büros kann die resolute Handwerkerfrau den Hof der kleinen Bau- und Möbelschreinerei überblicken. Seit 28 Jahren führt sie die Bücher und erledigt den Schreibkram des Familienbetriebes in Auernheim, einem kleinen Dorf eine gute Autostunde südlich von Nürnberg. Ehemann und Schreinermeister Heinrich arbeitet mit einem Gesellen die Aufträge ab.

Die Zeiten hätten sich gravierend geändert, sagt Angelika Stöhr. "Früher hat man mit den Kunden einen Auftrag abgesprochen, und beide Seiten haben sich an die Abmachung gehalten."

Heute sitzen die Stöhrs auf 42 Stühlen und 12 Tischen aus massivem Buchenholz, die ein Wirt bei ihnen bestellt und nicht bezahlt hat. Als er pleite ging, holten sie das Mobiliar ab - sicher ist sicher.

Dann ist da der Jurist, der sich ein Dutzend maßgefertigte Fenster in sein Haus hat einbauen lassen und nun beklagt, die Quersprossen seien drei Millimeter zu dick, und deswegen nicht zahlt. Nicht zu vergessen die Ladenbesitzerin, die das Geld für ihre neue Eingangstüre schuldig geblieben ist.

"Alles in allem laufen wir 20 000 Euro hinterher," rechnet Angelika Stöhr vor und wirft empört die Frage auf, "wie ein kleiner Familienbetrieb das bitteschön auf Dauer verkraften soll?"

Immer häufiger kaufen Privatleute und Firmen Waren und Dienstleistungen ein, bezahlen sie aber gar nicht oder erst nach vielen Mahnungen und Drohungen. Vorbei sind die Zeiten ehrbarer Kaufmannssitten, die Zahlungsmoral scheint verlottert zu sein wie nie zuvor.

"In den vergangenen acht Jahren ging es damit rapide abwärts", sagt Christian Groß, Rechtsexperte beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK).

"Konzerne steuern ihre Liquidität über erzwungene Kredite der Lieferanten"

Die einen knausern aus Not, weil ihnen die Schulden über den Kopf wachsen, sie arbeitslos wurden oder eine Geldquelle plötzlich versiegte.

Die anderen knausern aus nüchternem Kalkül, denn wer nicht zahlt, ist im Vorteil. "Die alte Regel 'Gutes Geld für gute Arbeit' ist einigen heute nichts mehr wert," sagt der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Inkassounternehmen, Stephan Jender.

Die Europäische Kommission schätzt den jährlichen Schaden durch nichtbezahlte Rechnungen auf 23,4 Milliarden Euro und 450 000 verlorene Arbeitsplätze. Jede vierte Unternehmenspleite in der EU habe mit hohen Außenständen zu tun, heißt es in Brüssel.

Nach einer Erhebung des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) aus dem Jahr 2005 haben 17 Prozent der Handwerker deswegen schon einmal Personal entlassen. Ein Viertel der Betriebe geriet in Existenznot. 2006 hat die anhaltend gute Konjunktur die Lage zwar etwas entspannt. Die Summe der Außenstände ist aber nach wie vor gigantisch.

Die Folgen vor allem für kleine Handwerksbetriebe sind fatal, weil sie die Ausfälle wegen fehlender finanzieller Reserven nicht abfedern können. Bleiben Kleinbetriebe in wettbewerbsintensiven Zeiten, in denen die Gewinnmargen schmelzen, auch noch auf hohen Forderungen sitzen, geraten sie schnell in eine Liquiditätsklemme. Wer dann Geld zum Überbrücken braucht, blitzt bei in der Kreditvergabe restriktiven Banken ab oder zahlt saftige Zinsen.

"Wenn Lieferanten und Personal pünktlich bezahlt werden müssen, zugleich aber die Einnahmen ausbleiben, wird die Eigenkapitaldecke immer dünner", sagt DIHK-Experte Groß. "Dann reicht unter Umständen eine Kleinigkeit aus, um einer an sich gesunden Firma das Genick zu brechen."

Allen voran leiden Handwerker aus dem Baugewerbe, doch auch Erich Degenhardt (Name von der Redaktion geändert) hat seine Erfahrungen mit der kollektiven Zechprellerei.

Auch in seiner Branche habe sie längst Methode, sagt der Geschäftsführer eines großen westdeutschen Konstruktionsbüros, das vornehmlich für die Automobilindustrie arbeitet. Er bittet seine Sekretärin, einen Aktenordner zu holen. "Zahlungsmoral" steht auf dem Einband.

Degenhardt fischt einen Brief heraus. In lapidarem Ton, der Widerspruch nicht erwartet, teilt ihm der Controller eines Automobilkonzerns mit, man werde das vertraglich vereinbarte Zahlungsziel von 30 Tagen netto nach Rechnungsstellung einseitig auf 90 Tage ausdehnen.

Es geht um fast 600.000 Euro für Planungsarbeit an einem Fahrzeugmotor. "Da redet vorher keiner mit dir, geschweige denn wirst du gefragt, ob du das auch verkraften kannst", schimpft Degenhardt, heftet den Brief angewidert ab und tippt auf seinem Taschenrechner herum: 600.000 Euro, die Zahl der am Projekt beteiligten Konstrukteure, deren Gehälter er nun noch zwei Monate länger vorfinanzieren muss, die anderen Arbeitskosten, dann noch ein fiktiver Faktor, "denn die machen das ja nicht nur bei uns so".

Am Ende steht auf dem Display ein dreistelliger Millionenbetrag als Profit des Automobilkonzerns. "Die steuern ihre Liquidität über die erzwungenen Kredite ihrer Lieferanten", sagt Degenhardt.

"Die Zahlungsmoral ist vor allem dort schlechter geworden, wo die Macht am Markt einseitig verteilt ist", sagt Heike Mallad von der Forschungsstelle Automobilwirtschaft in Bamberg. Gerade wurde dort eine Studie mit alarmierenden Ergebnissen abgeschlossen.

Demnach beklagt eine wachsende Zahl von Zulieferern, viele Konzerne hielten sich nicht an Abmachungen. Und um überhaupt an Aufträge zu kommen, müssten neuerdings die Zulieferer Werkzeuge, Muster und Prototypen für künftige Fahrzeugmodelle auf eigene Rechnung und Risiko erstellen.

"Man muss nicht mehr fürchten, sein Gesicht zu verlieren, wenn man sich unkorrekt verhält"

"Das Schlimme ist", sagt Unternehmer Degenhardt, "dass ich den Druck inzwischen auf meinen Lieferanten genauso weitergebe und die wiederum mit ihren Lieferanten genauso umgehen." So entsteht ein Teufelskreis, und glaubt man Professor Uto Meier von der Katholischen Universität Eichstätt, dann hat dessen Entstehen viel mit der "totalen Dominanz des ökonomischen Denkens" zu tun.

"Es geht vielen nur noch um den schnellen Euro Gewinn, nicht aber mehr um nachhaltige und dauerhaft gefestigte Kundenbeziehungen", sagt der Leiter des Studienganges für ethisches Management in Eichstätt. Verstärkt werde der Trend, weil "Wirtschaftsbeziehungen heute anonymisierter und globalisierter seien als früher. "Man muss nicht mehr fürchten, gleich sein Gesicht zu verlieren, wenn man sich unkorrekt verhält", erläutert Meier.

Angelika Stöhr sitzt in ihrem kleinen, gemütlichen Büro unter dem Foto der örtlichen Fußballmannschaft, deren Trikots die Schreinerei gesponsert hat, und schwärmt von den guten alten Zeiten. Als wenigstens auf dem flachen Land das Bezahlen der Fenster, Türen und Holzdecken noch Ehrensache für ihre Kundschaft war, "weil sich keiner schief anschauen lassen wollte".

Natürlich habe es hie und da Unzufriedene und Klagen über Mängel gegeben, "aber dann hat man sich zusammengesetzt und geeinigt". Neulich hat sie den Juristen angerufen, dessen Fenstersprossen ihr Mann drei unzumutbare Millimeter zu dick geschreinert haben soll. "Über seine Sekretärin ließ er mir ausrichten, ich solle ihn nicht belästigen." Schließlich war Stöhr bei dem Auftrag nur als Subunternehmer tätig.

Gemeinsam mit dem Generalunternehmer habe man den Austausch der Fenster angeboten, einen 30-prozentigen Nachlass vom Kaufpreis oder die Einschaltung eines Sachverständigen, sagt Stöhr.

Auf nichts sei der Jurist eingegangen. Bei drei Rechtsanwälten holte sich die Handwerkerfrau Rat, doch alle winkten ab. Das Risiko einer Klage und die Kosten stünden in keinem Verhältnis zum Auftragswert von knapp 10 000 Euro.

"Verständlich," meint Richard Walther, "denn Prozesse bei kleinen Außenständen lohnen sich in der Regel nicht." Bis vor kurzem war Walther Vorsitzender Richter des Bausenats am Oberlandesgericht Nürnberg.

"Bauprozesse dauern oft Jahre, und wenn man durch alle Instanzen muss, sind die Kosten unter Umständen so hoch wie die Summe, um die es geht", sagt er. Ganz abgesehen davon, dass sie oft mit Vergleichen enden, bei denen die Kläger hohe Abstriche machen müssen. Gericht, Anwälte und Gutachter müssten jedoch bezahlt und nicht selten sogar vorfinanziert werden.

Die Politik hat das Problem inzwischen erkannt, aber sie tut sich schwer damit, es zu lösen. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) hat "schneller Geld für Handwerker" versprochen. Aber der Entwurf eines Forderungssicherungsgesetzes steckt in den parlamentarischen Mühlen des Bundestages fest.

Verbraucherschützer bremsen das Vorhaben. Sie bemängeln vor allem, dass laut dem Gesetzentwurf Richter künftig eine vorläufige Zahlung anordnen können. Handwerker wie Schreiner Stöhr würden davon erheblich profitieren. Den Verbraucherverbänden passt jedoch nicht, dass solche Zahlungen möglich sein sollen, noch ehe es zur Beweisaufnahme von etwaigen Schäden gekommen ist.

DIHK-Rechtsexperte Groß ist generell skeptisch: "Zahlungsmoral ist per Gesetz schwer zu verordnen, denn wie will man das durchzusetzen?" Als moralische Richter taugen der Staat und seine Organe obendrein kaum.

Denn während Finanzämter selbst bei geringsten Verzögerungen Steuerzahlern bisweilen horrende Säumniszuschläge aufbrummen, lässt sich die öffentliche Hand Zeit damit, ihre Schulden zu begleichen. Die Dienstwege sind lang, bis zu vier Monate und länger warten Firmen auf Bezahlung öffentlicher Aufträge.

Viele Betroffene verlassen sich lieber auf sich selbst - und schicken Geldeintreiber los. "Die Zahl der Inkassounternehmen hat in Deutschland in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen", sagt Verbandspräsident Jender.

Auch Autozulieferer Degenhardt wurde selbst aktiv. Aber nur ein einziges Mal, weil ihm das nur selbst geschadet hat. Er rief den Controller des Autokonzerns an und forderte pünktliche Bezahlung. Der konterte kühl, wenn ihm etwas nicht passe, erhalte er künftig eben keine Aufträge mehr. Im Übrigen könne er ruhig klagen. Einen jahrelangen Prozess wegen 600 000 Euro halte der Autokonzern mühelos aus, nicht aber er, der kleine Zulieferer.

Auch Angelika Stöhr hat telefoniert. Unter falschem Namen rief sie bei der Familie des Juristen an, der seine Fenster nicht zahlen will. Sie habe erfahren, dass diese ihre Fenster bei der Firma Stöhr habe fertigen lassen.

Auch sie brauche neue Fenster und wolle sich nur erkundigen, ob man die Schreinerei empfehlen könne und mit deren Arbeit zufrieden gewesen sei. Ja, ja, habe die Juristengattin geantwortet, sagt Stöhr. Abgesehen von Kleinigkeiten seien die Fenster wunderbar.

© SZ vom 9.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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