Deutschlands Geschichte in einem Sparbuch:Von Kühen, Kriegen und Kleingeld

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Krieg, Währungsreform, Wirtschaftswunder: Wie sich Deutschlands Geschichte in einem der ältesten Sparbücher des Landes widerspiegelt - 1904 wurde es eröffnet, und noch immer bringt es Zinsen.

Hannah Wilhelm

1904 - Guthaben: 50 Mark

Kolonat Bötsch und sein Sparbuch. (Foto: Foto: Axel Griesch)

Wenigstens bekommt das Baby mit dem ungewöhnlichen Vornamen ein Sparbuch zur Taufe. Der kleine Kolonat Haas hat es schwer genug - als uneheliches Kind.

Das ist kein Spaß, wenn man im Frühjahr 1904 geboren wird. Zudem im nördlichen Franken, in Königshofen nahe der thüringischen Grenze, wo man sehr katholisch ist. Kolonats Patenonkel will ihm etwas Gutes tun und zahlt für den vier Wochen alten Säugling am 12. Mai 1904 genau 50 Mark auf ein Sparbuch ein. Heute erzählt das Buch mit den schwungvollen Tintenvermerken und den Sparkassen-Stempeln die Geschichte einer Familie - und die Geschichte Deutschlands.

Der Patenonkel eröffnet das Konto an einem Donnerstag im Frühjahr 1904 beim Nachbarn Friedrich Kießling, in dessen Fachwerkhaus am Fuße der katholischen Kirche. Kießling verwaltet in seinem Wohnzimmer das Geld der Bauern aus der Umgebung, insgesamt 82.000 Mark. Nun auch das Geld von Kolonat Haas. Damals ist es eines von vielen Sparbüchern. Heute ist es eines der wenigen Sparbücher aus dieser Zeit, die noch genutzt werden und Zinsen ansammeln.

50 Mark sind 1904 ein großzügiges Taufgeschenk. Der Wert der Mark wird damals durch Goldvorräte der Notenbank garantiert. Dafür hat Reichskanzler Otto von Bismarck gesorgt, als er 1871 die einheitliche Währung für das Deutsche Reich einführte. Eine Mahlzeit mit Bier kostet 70 Pfennig, Klein-Kolonat hat also mit dem Sparbuch Nummer 9896 für 71 Abende vorgesorgt. Die 50 Mark wären heute 300 Euro wert. Der Patenonkel macht sich Sorgen um das uneheliche Kind. Abheben darf der Kleine das Geld nicht, ohne dass der Patenonkel zustimmt. Das vermerkt der Hinterzimmer-Banker Kießling im "Quittungs-Buch über Spar-Einlagen" mit schwarzer Tinte, die heute verblichen ist.

1906 - Guthaben: 102,47 Mark

Im Jahr 1906, Kolonat ist zwei Jahre alt, besucht vermutlich seine Mutter die Hinterzimmer-Sparkasse und lässt eine wichtige Änderung vornehmen: Der Nachname "Haas" wird gestrichen und durch "Eschenbach" ersetzt.

Die Mutter konnte endlich heiraten, endlich ist alles, wie es sich gehört. Die Mutter zieht mit Kolonat zu ihrem Mann auf den Hof in der Schuhgasse. Brav werden die Zinsen nachgetragen, einmal im Jahr. Außerdem zahlt jemand weitere 50 Mark ein, vermutlich ist es wieder der Patenonkel des Kleinen. Die Zukunft sieht etwas besser aus für Kolonat Eschenbach.

1914 - Guthaben: 139,43 Mark

Es ist Krieg, und Kolonats Vater marschiert. Der Zehnjährige bleibt mit seiner Mutter auf dem Hof zurück. Er muss helfen; die Kindheit ist vorbei. Er melkt früh morgens die zehn Kühe, treibt sie auf die Wiesen, füttert die Schweine. Die Winter 1916 und 1917 sind bitterkalt, oft ist es schwer, Holz zum Heizen zu finden.

Das Geld auf dem Sparbuch verliert stetig an Wert, seit die Regierung 1914 die Golddeckung aufgehoben hat und unentwegt Scheine druckt - der Krieg ist teuer. Die Geldmenge verfünffacht sich. 1918 ist der Krieg verloren, fast zehn Millionen Menschen sind tot, darunter 38 Königshofener. Kolonats Vater lebt. Der 14-jährige Kolonat kramt sein Sparbuch wieder hervor: "448,79 Mark" vermerkt der Banker Kießling.

Auf der nächsten Seite: Hitlerputsch, Hyperinflation - und der Tod der Mutter.

1923 - Guthaben: 26,94 Goldmark

Mauerfall in Berlin, 1989. (Foto: Foto: AP)

Fünf Jahre, eine bayerische Räterepublik und einen Hitler-Putsch später hat die Hyperinflation das Geld der Deutschen dahingerafft. Die Preise sind ins Unermessliche gestiegen, zu Hause bei Kolonat in der Schuhgasse stapeln sich wertlose Banknoten. Reichskanzler Gustav Stresemann ersetzt die Mark durch die Rentenmark, Kurs eine Billion zu eins. Ein Stempel im Sparbuch hält fest: "Zur Aufwertung angemeldet."

Die Bevölkerung nennt die neue Währung statt "Rentenmark" bald "Goldmark", weil der Wert nun wieder durch Goldreserven garantiert wird. Kurz darauf heißt die Währung dann "Reichsmark". Kolonat, fast 20 Jahre alt und unterfränkischer Meister im Geräteturnen, besitzt 26,94 Goldmark. Heute wären das 100 Euro. Der Plan des Patenonkels, dem Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, ist nicht aufgegangen. Es ist keine gute Zeit für ihn. Sein kleiner Bruder verunglückt, seine Mutter stirbt. Kolonat bleibt mit seinem Vater auf dem Hof in der Schuhgasse zurück.

1934 - Guthaben: 36,28 Reichsmark

Die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen. Eine andere Zeit, eine andere Handschrift im Sparbuch, sie vermerkt "36,28 Mark". Kolonat hat geheiratet, ist Vater einer kleinen Emma. Die Sparkasse Königshofen entwächst den Privaträumen, 1935 verkündet die lokale Zeitung die "feierl. Einweihung" eines echten Sparkassen-Gebäudes. Es wird in Naturstein errichtet - nach "Anregungen des Führers", schreibt die Zeitung. Vermutlich weiß Hitler noch nicht einmal, wo Königshofen liegt.

Auf der nächsten Seite: Der Zweite Weltkrieg, Zigaretten als Währung - und nichts mehr auf dem Sparbuch.

1939 - Guthaben: 40 Reichsmark

Eines Tages stürmt die achtjährige Tochter Emma nach der Schule in die heimische Küche. "Da stand meine Mutter weinend am Herd und sagte: ,Der Papa muss jetzt nach dem Krieg'", erinnert sich Emma heute. Doch Kolonat muss doch nicht.

Der 35-Jährige ist zwar im wehrfähigen Alter, aber Landwirte werden zu Hause gebraucht. Hitler lässt Geld für den Krieg drucken, die Mark verfällt. Aber an sein Sparbuch denkt Kolonat erst wieder nach der deutschen Kapitulation, als im nahen Nürnberg die Prozesse gegen Hermann Göring, Rudolf Heß und andere Nazigrößen laufen. Das Guthaben hat allerdings keinen Wert mehr - Europa liegt in Trümmern; Zigaretten sind die einzige Währung, die zählt.

1948 - Guthaben aufgebraucht

Nach dem Krieg beläuft sich das Guthaben auf 47,53 Mark. Und selbst das wenige geht verloren - durch die Währungsreform vom 20. Juni 1948. Jeder Bürger darf höchstens 40 Reichsmark in neue "Deutsche Mark" umtauschen, das restliche Guthaben verfällt. Eine kringelige Schrift vermerkt in Kolonats Sparbuch: "Guthaben aufgebraucht". Dafür füllen sich die Auslagen in den Geschäften im Königshofen nach der Reform. Deutschland hat wieder eine Währung, die etwas wert ist.

Auf der nächsten Seite: Wirtschaftswunder, Deutschland wird Fußball-Weltmeister - und Kolonat Eschenbach verspricht seinem Enkel sein "Sparbüchle".

1953 - Guthaben: 5,60 Deutsche Mark

Das Buch ist wertlos, doch Kolonat Eschenbach behält es trotzdem. Vielleicht als Erinnerung an seinen Taufpaten, der ihm das Buch vor mehr als 50 Jahren geschenkt hat und ihm etwas Gutes tun wollte. Vielleicht behält er es auch, weil es ihn nun schon so lange durch sein unruhiges Leben begleitet hat.

Oder weil die Deutschen einfach ihr Sparbuch so sehr lieben; kein Deutscher wirft einfach sein Sparbuch weg. Auch Kolonat nicht. Sein Glück: Fünf Jahre später erlässt die Regierung unter Konrad Adenauer ein Gesetz zur Entschädigung der Sparer, die ihr Geld mit der Währungsreform verloren haben. Ein beamtengrauer Stempel vermerkt in Kolonat Eschenbachs Sparbuch: "Altsparerentschädigung", 5,60 Deutsche Mark bekommt er nun zurück.

Es geht aufwärts: mit der Bundesrepublik, der Deutschen Mark und dem Guthaben auf dem Sparbuch. 1954 wird Deutschland Fußball-Weltmeister, das Wirtschaftswunder beschert dem Land einen ungekannten Aufschwung, die Arbeitslosigkeit sinkt unter ein Prozent. Der bereits 50-jährige Kolonat macht endlich seinen Führerschein. Und er wird Großvater. Sein Enkel heißt nach ihm Kolonat, nun leben drei Generationen zusammen auf dem Hof in der Schuhgasse. Als sein Enkel 16 Jahre alt ist und sich für eine Banklehre entscheidet, ist Kolonat stolz. Er verspricht dem Teenager: "Ich hab da noch ein altes Sparbüchle."

Auf der nächsten Seite: Das Sparbuch gehört jetzt Kolonat Bötsch - und wird umgerechnet in Euro.

1993 - Guthaben: 614,16 Deutsche Mark

Die nahe Grenze zur DDR gibt es nicht mehr. Deutschland ist wiedervereinigt, die Währungsreform lässt das Sparbuch diesmal unberührt. Kolonat Eschenbach geht es nicht gut, der 89-Jährige merkt das Alter, spürt sein langes Leben. Er überträgt seinem Enkel Kolonat Bötsch das Sparbuch, damit es im Fall seines Todes nicht von der Sparkasse eingezogen wird.

Hinter das 1906 gestrichene "Kolonat Haas" und das "Kolonat Eschenbach" schreibt eine junge Bankangestellte mit schwarzem Kugelschreiber "Bötsch, Kolonat" als neuen Inhaber. Am 17. März 1995 stirbt Kolonat Eschenbach, geborener Haas.

2002 - Guthaben: 383,56 Euro

Sparbuch-Erbe Kolonat Bötsch hat für die DZ Bank in Frankfurt die technische Umstellung auf den Euro organisiert. Er hat seit Monaten keinen Urlaub nehmen können. Als es geschafft ist, fährt er in seine Heimatstadt, die inzwischen Bad Königshofen heißt, um auch das Guthaben auf dem alten Sparbuch in Euro umrechnen zu lassen. "Währungs-Umstellung Faktor 1,95583" notiert eine rundliche Schrift. Die Zinsen lässt er aus Platzgründen nur selten eintragen. Damit er das Buch noch lange behalten kann. Vier Seiten sind frei. "Das reicht für die Zinseinträge der nächsten 50 Jahre", hofft der heute 51-Jährige. Vier Seiten für neue Währungsumstellungen, neue Besitzer, hoffentlich nicht für neue Kriege.

© SZ vom 07.05.2008/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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