"Berlin Townhouses":Das Individuum schlägt zurück

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Selbstverwirklichung im Städtebau: Die "Townhouses" in Berlin-Mitte beantworten die Frage nach der Zukunft der Stadt so radikal wie selbstverliebt.

Gerhard Matzig

Die ,,Townhouses'', die in Berlin mittlerweile Gestalt annehmen, kann man eigentlich nur rühmen. Die andernorts lediglich beschworene ,,Renaissance der Stadt'': hier wird sie wahr.

Eine architektonische Nabelschau: Die Fassaden der "Berlin Townhouses" haben nur gemeinsam, dass sie alle maximal 6,50 Meter breit sind. (Foto: Abbildung: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin)

Auf einem etwa 25000 Quadratmeter großen, prominent gelegenen Areal in Mitte werden bis zum Jahr 2008 in unmittelbarer Nachbarschaft zum Auswärtigen Amt auf 47 einzelnen Grundstücken individuell gestaltete, maximal sechseinhalb Meter breite Wohnhäuser mit kleinen Vorgärten oder grünen Höfen erbaut.

Diese Stadthäuser kann man sich wie vier- bis fünfgeschossige Reihenhäuser vorstellen, die sich stadträumlich zu einer einprägsamen Geste verdichten. Im bescheidensten Fall bieten sie 242, in der großzügigsten Variante 489 Quadratmeter Wohn- und Nutzfläche. Dazu Dachterrassen, Balkone, Loggien oder sogar Innenhöfe.

Repräsentativ wie einst die Stadthäuser des Großbürgertums

Das Berliner Projekt, in globalistische Marktform gefönt durch den recht überflüssigen englischen Begriff der Townhouses, reanimiert somit den seit Jahrhunderten in Europa bekannten Typus des ,,vornehmen Bürgerhauses''. Gemeint sind damit schmale, hohe, repräsentativ ausstrahlende, folglich auch mit baulich dekorativen Fassaden ausgestattete Häuser für Familien.

Als charakteristische, räumlich wirksame und vital organisierte Figuren kennt man großartige Ensembles solcher Stadthäuser aus London, Paris, Florenz oder Amsterdam; aber auch aus Lübeck, Frankfurt oder Trier; und schließlich aus San Francisco oder sogar New York.

Im Zuge der Suburbanisierung - also der räumlichen Trennung von Arbeiten und Wohnen nach den Maßgaben der grausam missverstandenen ,,Charta von Athen'' als Gründungsurkunde der Moderne - verschwand diese außerordentlich ästhetische und welthaltige Form städtischen Lebens aus den Innenstädten. An ihrer Stelle entwuchsen den Städten vor allem in den Nachkriegsjahren die bekannten, einfältigen Glasmenagerien der trübseligen Bürostundengesellschaft. Das Wohnen zog sich dagegen ,,ins Grüne'' zurück, um zum heutigen Doppelhaushälftenglück mit Autobahnanschluss zu werden.

Für eine Renaissance der Stadt fehlt der Wohnraum

Weil nun aber Suburbia ,,das Personal ausgeht'' (Hartmut Häußermann), vor allem die Frauen nämlich, die ihre Zeit nicht länger als Taxidienstleister der Kinder vergeuden wollen, weil der Pendelterror der Feinstaubfreunde unbezahlbar wird, weil eine überalterte Gesellschaft aus den verwaisten Vorstadtghettos wieder zurück in die Zentren drängt - und weil sogar immer mehr Familien in die Stadt der kurzen, flexiblen, leichter zu organisierenden Wege ziehen wollen: deshalb steht der Stadt als Wohn- und Arbeitsort tatsächlich eine auch geistig gemeinte Renaissance bevor. Was noch fehlt: der geeignete Wohnraum.

Insofern markieren die Stadthäuser in Berlin und anderswo eine überzeugende Alternative zum Flächenfraß-Eigenheim im adipösen Suburbia. Auch in Frankfurt oder Hamburg, in Köln oder Leipzig entdeckt man derzeit beherzt die Zukunft unseres baugeschichtlichen Erbes: nämlich das ökonomische, ökologische und - nicht zuletzt - das soziologische Potenzial moderner Stadthäuser. Besser spät als nie.

Bezahlbare Preise, beste Lage - eine Sensation

Und sie sind manchmal durchaus erschwinglich: Der Grundstückspreis des Berliner Projekts variiert pro Quadratmeter zwischen 769 und 1498 Euro. Kein Wunder, dass die 47 Häuser auf dem Friedrichswerder längst verkauft sind. Sie definieren privaten und bezahlbaren Wohn- und Grünraum zwischen Gendarmenmarkt und Schlossplatz, zwischen Unter den Linden und Spittelmarkt. Im Grunde ist das eine Sensation.

Einerseits kann man also den Initiatoren - der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sowie der DSK, der Deutschen Stadt- und Grundstücksentwicklungsgesellschaft - nur gratulieren. Andererseits muss man sich angesichts der ersten, fast fertigen Eigenheime nun auch fragen, ob Berlin verrückt geworden ist: Ein Projekt, das derart souverän die Frage nach der Zukunft der Stadtgesellschaft beantwortet, lässt man aussehen, als ob es einer Seminararbeit im zweiten Semester zum Thema ,,Fassadenstudien'' entsprungen wäre. Oder der Bauschmuckkiste von Obi.

Die Architektur der stadträumlich geschickt situierten und baupolitisch klug durchgesetzten ,,Berlin Townhouses'' erweist sich bei näherer Betrachtung als Groteske. Und mehr als das: als Lehrbeispiel einer missverstandenen Liberalität im Stadtraum. In Berlin triumphiert die überindividualistische Gesellschaft über das Wesen der Allgemeinheit.

bloß nicht gewöhnlich sein: Drei besonders ausgefallene "Townhouses"-Fassaden. (Foto: Foto: DRK)

Bauliche Egozentrik, privatistische Kapriolen

Selten zuvor wusste sich bauliche Egozentrik eine so feine Adresse zu verschaffen. Die spektakelhaften Schauwerte des Projekts, in dem sich 47 Bauherren mit 47 Architekten auf denkwürdige Weise verwirklichen dürfen, entsprechen den inneren Werten leider in keiner Weise.

Die flirrende, in jede beliebige Richtung wuchernde Ästhetik der Stadthäuser, die kein einziges Kapitel der Baustilkunde auslässt, illustriert eine Massengesellschaft, die sich in privatistische Kapriolen flüchtet, weil sie ihre eigene Masse offenbar nicht aushält. Norm, Kanon und Regelhaftigkeit: man sieht die ,,Berlin Townhouses'' förmlich auf der panischen Flucht davor.

Fast so schlimm wie die Klingeltonindustrie

Sie entsprechen nicht den Geboten im öffentlichen Raum, sondern stülpen ihren ungehemmten Expressionismus über die Öffentlichkeit. Sie drängen sich auf. Sie repräsentieren eine Architektur der Indezenz, die an die Möglichkeit erinnert, sich ein ,,persönliches Parfum'' im Discount mixen zu lassen.

Die Stadthäuser ähneln der Klingelton-Industrie oder der verbreiteten Neigung, sich eine Privatreligion zusammenzuschrauben. Sie sind Stein gewordene ,,Individualreisen'', ,,Individualausstattungen'' für Autos und ,,Individual-Pop-Alben'' im Rechner. In diesen Stadthäusern hat sich eine nach ,,Individualität'' gierende Gesellschaft ein fragwürdiges Denkmal gesetzt.

Vermarktet wird das Projekt folgerichtig so: ,,Die Vielfalt der unterschiedlichen Menschen soll sich in der Individualität der einzelnen Häuser widerspiegeln(...) Stark strukturierte Fensterachsen wechseln sich mit klassisch-modernen Stirnseiten unterschiedlicher Materialität ab. Die schmalen hohen Fassaden verleihen jedem Haus eine eigene, unverwechselbare Handschrift.'' So viel verwechselte und falsch verstandene Unverwechselbarkeit war nie.

Lachhafte Vorortkonkurrenzen in die Stadt getragen

Die Exzentrik des Immobilienmarktes kennt schon länger blaue Dächer, absurde Palazzobalustraden und überhaupt das emsige Bemühen um Auflösung städtebaulicher Leitmotivik und einheitlicher Gestaltungssatzungen.

Aber nun dringt solch ein Persönlichkeitswahn offenbar in die Stadt vor. Und hier hört der Spaß auf. Denn das ist das genaue Gegenteil der Stadt-Renaissance - das ist lediglich die Wiedergeburt der lachhaften Vorortkonkurrenzen mit den Mitteln und im Maßstab der Stadt.

Der öffentliche Raum wird auf diese Weise umgebaut zum Freiraum privater Sehnsüchte, der - im Gegensatz zu früherem Bauherrenehrgeiz - aus einem gewaltigen Arsenal unendlich vieler Inszenierungsmöglichkeiten bestückt werden kann.

Lookalike-Contest der Architekturparodien

Der begrenzte Musterkatalog tradierter Baukunst gerät so zum gigantischen Speicherchip postmodernistischer Kombinatorik. Die Folgen sind erbärmlich. Auf dem Friedrichswerder in Berlin hat man das Gefühl, einem Lookalike-Contest der Architekturparodien ausgeliefert zu sein.

Da ist beispielsweise ein Haus zu sehen, das sich mit Zahnschnitt und ionischem Kyma als ehrgeizige Antikenausstellung maskiert. Flankiert wird es vom Gegenteil: von einer Backsteinbescheidenheit, die man vielleicht aus Sheffield, nicht aber aus Berlin kennt. Dann gibt es den Typus ,,Mies van der Rohe für Arme'', der glaubt, aus dem Vokabular des Barcelona-Pavillons eine Wohnhaus-Optik destillieren zu können. Oder das Haus, das aussieht, als hätten die Betongießer die Fassadenelemente einem Bierflaschenöffner nachempfunden.

Und über all dem, mal über Beton und Ziegel, mal über Putz oder Glas, über stehend oder liegend proportionierten Fassaden, über Stirnseiten, die Rückenansichten, und Höfen, die Vorderseiten sein wollen, über all dem hebt und senkt sich eine Traufe als Dachbegrenzung, die - um nur ja nicht einheitlich zu wirken - die Fieberkurve eines allzu offenen Immobilienfonds nachstellt. Auch der blaueste Himmel über Berlin wird über den ,,Berlin Townhouses'' wie eine ungeschickte Laubsägearbeit aussehen.

Rauschhafter Gegenentwurf zu anonymen Schlafregalen

Man fragt sich, was die Stadtbaupolitik zu dieser rauschhaften Überdosis Individualität hat greifen lassen, die jedem Konsens und damit leider auch jeder Stadtbaukunst misstraut. Im Hintergrund, an der Leipziger Straße, überragen riesige Plattenbau-Wohnmaschinen die neuen Stadthäuser und beantworten die Frage zum Teil.

Es ist die Erfahrung der anonymen Schlafregale der Ost- wie Westmoderne. Es ist das niemals eingelöste Versprechen vom ,,befreiten Wohnen'', das zu seinem eigenen Gegenteil geführt hat: zum Leben in Nummern statt in Häusern. Zum anderen Teil ist es die depressive Rigidität der jüngeren Berliner Baupolitik, die mit ihren absolutistischen Formvorgaben eine überschießende Sehnsucht nach Revolte erzeugt hat.

Und drittens verdankt sich die unansehnliche Phantastik solcher Projekte einem Immobilienmarkt, der seine Ideen im Fahrwasser einer auch sonst überindividualisierten Gesellschaft verkauft.

Auch die Stadt der Zukunft braucht eine "Handschrift"

Aus all diesen Zutaten kann die Stadt der Zukunft nicht bestehen, wenn sie bestehen will. Wie zu allen Zeiten benötigt sie auch heute den Begriff des Kanons, der formalen Reichtum mit gesellschaftlicher Übereinstimmung ausbalanciert. Es ist die Stadt als Behältnis vieler, die eine ,,Handschrift'' besitzen soll - nicht das Haus selbst.

Solch eine Handschrift ergibt sich auch im Ensemble aus wenigen, rhythmisierend und spannungsvoll zurückhaltend eingesetzten Formakzenten. Die ,,Berlin Townhouses'' nehmen sich dagegen aus wie ein Orchester, dem man beim Stimmen der Instrumente zuhört: laut und dissonant.

Man denkt an einen Mordillo-Cartoon. Darin wird ein Knubbelmännchen verhaftet, weil es - in einem Meer grauer, gleich aussehender Häuser - sein Haus bunt anpinselt. Dabei ist es der Städtebau aus dem Geist der Knubbelmännchenkritik, wovor man sich zu fürchten hat.

© SZ vom 23.09.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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