Alltag in New York:Geschichten vom Abschwung

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Die Finanzkrise verändert das Leben an der Wall Street: Eine Analystin wird zur Köchin, kleine Finanzfirmen finden neue Leute - und Scheidungsanwälte haben Zulauf.

Nikolaus Piper

Es gibt jetzt viele gefallene Stars in New York. Richard Fuld zum Beispiel, den früheren Chef der zusammengebrochenen Investmentbank Lehman Brothers, den seine einstigen Untergebenen im Internet mit Hohn und Spott übergießen. Oder Andrew Morton, den angesehenen Leiter des Rentenhandels bei Lehman, den Fuld noch kurz vor dem Untergang feuerte. Oder Sallie Krawcheck, die oberste Vermögensverwalterin von Citigroup, die diese Woche vor die Tür gesetzt wurde.

Joshua Persky arbeitete bei einer Investmentfirma und sucht jetzt einen neuen Job. (Foto: Foto: Getty)

Wer sucht, findet aber auch neue, ganz andere Stars, und zu denen gehört zweifellos Jessi Walter. Die hochgewachsene, schlanke Frau mit eindrucksvollem braunen Pferdeschwanz hat sich eine rosarote Schürze umgebunden und steht nun in der Küche des Restaurants "Pong" in Manhattans Greenwich Village. Um sie herum ein Knäuel von 17 Kindern, die kleinsten kaum zwei Jahre, die ältesten schon zwölf. Ihnen hat sie gerade erklärt, wie man Apfelmus und amerikanischen Apfelkuchen macht. "Ich habe vorher gefragt, ob jemand Apfelmus mag", berichtet Walter. "Die Antwort war: na ja. Aber als das Ergebnis dann da war, waren alle begeistert." Jessi Walter ist 27 Jahre alt und Gründerin einer Firma namens "Cupcake Kids" (etwa: "Napfkuchen-Kinder"). Ihr Produktprofil: "Kochunterricht, Partys und private Events für Kinder jeden Alters".

Idee aus der Not geboren

Vor gar nicht langer Zeit sah Walter noch ganz anders aus. Sie lief nicht mit rosa Schürze herum, sondern in Hosenanzug oder Businesskostüm. Die Absolventin der Harvard Business School war Analystin für Kredite und komplexe Wertpapiere bei der Investmentbank Bear Stearns. Es war ihr erster Job nach dem Examen, sie war sehr gut bezahlt, und eine steile Karriere an der Wall Street schien auf sie zu warten. Dann kam der 16. März 2008, Bear Stearns drohte unter einem Berg fauler Hypotheken zusammenzubrechen und musste sich in die Arme der Großbank JP Morgan flüchten.

Drei Monate später verlor Walter wie viele andere ihren Job. "Ich wollte mich bei anderen Finanzfirmen bewerben", sagt sie. "Aber dann habe ich beschlossen, etwas ganz anderes zu machen. Ich koche gerne, und ich gehe gerne mit Kindern um. Jetzt will ich sehen, ob man damit Geld verdienen kann." Ein mutiger Schritt: Auch ihr Freund, zuvor Händler bei der Geschäftsbank Wachovia, ist mittlerweile arbeitslos.

Die Finanzkrise ist, mit einiger Verspätung, bei den Beschäftigten der Wall Street angekommen. Bis jetzt hat New York 10.000 Arbeitsplätze im Finanzsektor verloren, in den ganzen USA waren es über 100.000. Im August stieg die Arbeitslosigkeit in New York von 5,0 auf 5,8 Prozent. Nach deutschen Maßstäben ist das wenig, der Anstieg ist jedoch der steilste, den die Stadt in einem Monat seit 30 Jahren erlebt hat.

Und dabei ist der Zusammenbruch von Lehman Brothers noch gar nicht berücksichtigt. In den nächsten zwölf Monaten werden weitere 40000 und damit knapp zehn Prozent aller Finanzjobs verlorengehen. Und die, die ihre Arbeit behalten, müssen sich auf drastisch niedrigere Gehälter einstellen.

Als Sandwich-Mann auf Jobsuche

Zu den Stars der neuen Zeit gehört auch Joshua Persky. Der 48-jährige Absolvent des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hatte bis zu Beginn dieses Jahres einen gutbezahlten Job bei der kleinen Investmentfirma Houlihan Lokey in Manhattan. Dann wurde er entlassen und machte sich auf die Jobsuche. Als die nach einem halben Jahr immer noch erfolglos war, wählte Persky einen ungewöhnlichen Weg: Er machte seinen Fall öffentlich. Eines Morgens im Juni stellte er sich als Sandwich-Mann mit je einem Plakat vor dem Bauch und vor dem Rücken auf die vornehme Park Avenue. "Erfahrener MIT-Absolvent sucht Job", stand darauf. Passanten drückte er seinen Lebenslauf in die Hand.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum auch Ehen zu den Opfern der Krise gehören.

Seither ist Persky eine Berühmtheit. Er hat zwar immer noch keinen Job, aber Journalisten aus der ganzen Welt berichteten über seine Geschichte. Und ein paar interessante Kontakte sind dabei herausgekommen. "Kürzlich rief mich der Chef eines internationalen Möbelherstellers aus Dubai an. Vielleicht wird etwas daraus", sagt Persky. Wer sich genauer für seine Suche interessiert, kann sie im Internet verfolgen. Auf seiner Webseite (www.oracleny.com) berichtet er jeden Tag über das Neueste und über seine Gedanken zur Finanzkrise.

Joshua Persky ist eigentlich ein sehr leiser, zurückgenommener Mann. Dass er trotzdem an die Öffentlichkeit gegangen ist, bereut er nicht. "Die Publicity hat mir schon geholfen", sagt er. Wer allerdings die Fälle von Persky und Jessi Walter vergleicht, erkennt auch eines: Mit Ende zwanzig sind die Folgen der Krise leichter zu nehmen als mit Ende vierzig.

Wieder zurück ins Elternhaus

Walter konnte ihr Apartment in Greenwich Village behalten, es ist ohnehin nicht sehr groß. Persky dagegen musste seine etablierte Welt aufgeben. Die Wohnung in dem vornehmen Hochhaus mit Türsteher und Swimmingpool an der Upper East Side gab er auf. Seine Frau zog mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Omaha (Nebraska), er selbst lebt bei seiner Schwester in Westchester County vor den Toren der Stadt.

Und wie hat sich das auf seine Ehe ausgewirkt? "Es gab ein Auf und Ab, aber sie hält noch", sagt er und fügt zögernd hinzu: "Es ist für eine Frau schon schwer, wenn sie mit vierzig bei ihrer Mutter Unterschlupf suchen muss."

Ja, auch Ehen gehören zu den Opfern der Krise. Davon weiß Alton Abramowitz zu berichten. Abramowitz ist Scheidungsanwalt in Manhattan und Vizepräsident der Amerikanischen Akademie der Familienanwälte. "Zu Beginn dieses Jahres war alles noch normal. Dann, im Februar, gab es plötzlich einen Ansturm an Klienten, so etwas habe ich noch nie erlebt", sagt er. Einen Klienten hat er, der verließ im vergangenen Jahr Bear Stearns und fing bei UBS an. Als dort Jobs abgebaut wurden, ging er ausgerechnet zu Lehman. Seine berufliche Zukunft ist völlig offen. Der Zusammenhang zur Krise ist für Abramowitz klar: "In vielen Ehen werden die Probleme durch viel Geld zugedeckt. Das funktioniert jetzt nicht mehr."

Besonders schlimm ist die Krise für all jene, die nicht zu den Spitzenverdienern gehörten. Manch einer verliert nicht nur den Job, sondern einen Teil der Altersversorgung - dann, wenn er das Geld in Aktien der eigenen Firma gesteckt hat. Die Bilder gingen um die Welt, als am Abend nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers die Mitarbeiter mit steinernen Mienen ihre persönliche Habe in Pappkartons aus der Firma holten. Manche von ihnen warteten die Kündigung gar nicht erst ab, sondern blieben am andern Tag einfach zu Hause. Aber an der Wall Street sind auch solche Dinge vielschichtiger als anderswo.

"Die Leute müssen umdenken" Wie sehr, zeigt ein Gespräch mit Kate Wendleton. Sie ist Gründerin einer Firma mit dem lustigen Namen "The Five O'Clock Club" ("Fünf-Uhr-Club"), die sich auf Karriereplanung und "Outplacement" spezialisiert hat. Auf die Frage, was denn die Finanzkrise für "normale" Arbeitnehmer an der Wall Street bedeute, gibt Wendleton eine überraschende Antwort: "Ein durchschnittlicher Mensch an der Wall Street hat nichts mit einem durchschnittlichen Menschen im Rest Amerikas zu tun. Er ist ein New Yorker." Was meint sie damit? "Das sind junge Leute, die direkt nach dem Examen nach Manhattan gekommen sind, um das schnelle Geld zu machen. Die waren sich zu schade, um in normalen Unternehmen zu arbeiten."

Sie kenne welche, die hätten darauf bestanden, zwischen der 42. und der 59. Straße und nirgendwo anders zu arbeiten. Das ist der Bereich in Midtown Manhattan, wo die meisten großen Finanz- und Anwaltsfirmen ihren Sitz haben. Mit so einer Einstellung kommt man heute nicht mehr weit. Voriges Jahr hatte Wendletons Firma 983 Klienten. Bis Anfang September dieses Jahres waren es schon doppelt so viele. "Die Leute müssen umdenken, in andere Branchen wechseln oder in eine andere Stadt ziehen", sagt sie. Auch an der Wall Street gebe es noch Jobs, zum Beispiel bei kleinen Investmentfirmen: "Die Leute verdienen dort immer noch mehr als Sie und ich. Aber eben deutlich weniger als vor einem Jahr."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die New Yorker der Mut nicht verlieren.

Auf einer bestimmten Ebene des Arbeitsmarktes ist die Krise einfach ein Prozess der Normalisierung, ein Abschied von früheren Exzessen. Und der hat durchaus gute Seiten. "Einige Firmen beginnen jetzt einzustellen, die sich die guten Leute vor kurzem gar nicht leisten konnten", berichtet etwa Alex Douzet, Vizechef von "The Ladder", einer Online-Jobbörse für Spitzenkräfte. "Es gibt jetzt wirklich neue Chancen." Noch schöner drückt es Gregg Fisher aus, Präsident der Beratungsfirma Gerstein, Fisher & Associates: "Das ist die größte Chance, die wir je hatten." Fishers Unternehmen will die Zahl der Mitarbeiter in diesem Jahr von 25 auf 50 verdoppeln.

Weniger Steuereinnahmen befürchtet

Die weiteren Auswirkungen auf New York werden allerdings zunächst einmal schlimm sein. Nach einer Faustregel hängen an jedem Wall-Street-Job vier weitere in anderen Branchen: Kellner, Fahrer, Juwelenhändler, Ärzte. Zehntausende New Yorker mit Minieinkommen dürften in den kommenden Monaten ihre Arbeit verlieren. Betroffen ist auch der öffentliche Sektor.

Im vergangenen Jahr kamen 35,9 Prozent aller Steuereinnahmen der Stadt New York aus der Kreditwirtschaft. Bürgermeister Michael Bloomberg kündigte deshalb bereits an, die Grundsteuer im nächsten Jahr um sieben Prozent zu erhöhen. Einige Investitionen in die U-Bahn und das marode Straßennetz sollen verschoben werden.

Über eine besonders bizarre Fernwirkung der Finanzkrise berichtete vor kurzem das Wall Street Journal: Annette Pucci, eine Einzelhandelsmanagerin, wollte sich zu ihrem 50. Geburtstag ein Facelifting gönnen und zu diesem Zweck Aktien für 15.000 Dollar verkaufen. Erst beim zweiten Hinsehen realisierte sie, wie groß die Verluste in ihrem Wertpapierdepot waren - und sagte dem Schönheitschirurgen erst einmal ab.

"Es geht auch wieder rauf"

Jessi Walter plant unterdessen die nächsten Schritte. Ihre Firma "Cupcake Kids" macht - natürlich - noch Verluste, deshalb kommt es jetzt darauf an, neue Finanzquellen zu erschließen. Sie sucht die Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Organisationen und hofft auf Spenden; schließlich bringt sie den Kindern etwas über gesunde Ernährung bei - ein wichtiges Thema in dem von Fettsucht geplagten Amerika. Glaubt man ihren Worten, dann hat die Krise für sie bisher nichts Bedrückendes gehabt. Die letzten Wochen bei Bear Stearns seien sogar ermutigend gewesen. "Alle halfen sich gegenseitig, das gab es vorher nicht."

Und was ist mit der Zukunft? "Ach wissen Sie, in New York ist es schon so oft runter gegangen. Es geht auch wieder rauf." Sagt sie und setzt ihr strahlendstes Lachen auf.

© SZ vom 27.9.2008/kim/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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