Onlinesucht:Die an der Computer-Nadel hängen

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Mehr als 1,5 Millionen Deutsche werden als Internet-süchtig eingestuft. Als letzter Ausweg bleibt nur der Entzug.

Jürgen Schmieder

Denis Bystrov und Michael Taylor hatten eine Idee: Sie wollten einen Tag lang ohne Computer leben. Also riefen sie den 24. März 2007 zum PC-freien Tag aus. Auf ihrer Internetseite shutdownday.org erklärten sie ihren Plan: Es gibt eine Milliarde Menschen, die über das Internet verbunden sind.

(Foto: Foto: Photodisc)

Bei einer Stunde Surfzeit pro Tag ergibt das 365 Milliarden Stunden pro Jahr. Warum also nicht einmal 24 Stunden ohne? Als Alternative zeigten die beiden in einem Video, was man mit einem Computer alles anstellen könnte, ohne ihn einzuschalten. Darauf surfen, mit der Kiste Baseball spielen oder als Tennisschläger missbrauchen.

Es gäbe viele Möglichkeiten

24 Stunden ohne Computer, ohne Internet - das klingt einfach. Man könnte spazieren gehen, Freunde treffen, Sport treiben. Wie schwer es jedoch sein kann, zeigen die Einträge im Forum der beiden Kanadier. Bis vergangenen Freitag hatten sich mehr als 50000 Menschen angemeldet und Kommentare hinterlassen.

,,Das wird der härteste Tag in meinem Leben'', schrieb Danny aus Minnesota. Nora aus Hannover war ein wenig gelassener: ,,Werde morgens wohl joggen gehen, dann lesen und abends Party machen. Wünsche Euch allen viel Glück.''

Wie hart es wirklich sein kann, zeigt eine andere Zahl auf der Seite: Mehr als 9000 Nutzer gaben zu, die Zeit nicht überstehen zu können. Sie seien süchtig, im Internet zu surfen, mit Freunden zu chatten oder sich in Online-Rollenspielen aufzuhalten. Sie sind Internet-Junkies, die pro Tag bis zu 15 Stunden im Netz verbringen.

Erschreckend große Zahl

Sie haben sich aus dem realen Leben verabschiedet und existieren nur noch im Internet. So wie ihnen geht es vielen Internetnutzern. Eine Studie des MIT im amerikanischen Cambridge vom November 2006 hat ergeben, dass vier Prozent aller Nutzer als süchtig zu gelten haben.

Bei 35 Millionen Deutschen, die vernetzt sind, sind das 1,5 Millionen Süchtige. ,,Das ist eine erschreckend große Zahl'', sagt Gabriele Farke. Sie betreibt das Portal onlinesucht.de und bietet Süchtigen und Angehörigen Hilfe an.

Suchtfalle Chatraum

(Foto: Foto: Photodisc)

Onlinesucht ist im Gegensatz zu anderen Abhängigkeiten - Zigaretten und Alkohol etwa - eine substanzunabhängige Verhaltenssucht. Während Raucher klar zu identifizieren sind, verläuft die Grenze zwischen Faszination am Internet und Sucht fließend.

,,Wenn sich jemand privat mehr als 35 Stunden pro Woche im Internet bewegt, dann stufen wir ihn als süchtig ein'', sagt Farke. Fünf Stunden pro Tag - für einen Online-Rollenspieler ist das nicht viel. Ab einer Zeit von mehr als 25 Stunden pro Woche gilt ein Mensch als suchtgefährdet.

Die Berliner Humboldt Universität untersucht seit 1999 Menschen im Internet. Die Forscher fanden heraus, dass etwa zehn Prozent der vernetzten Jugendlichen an der Schwelle zur Sucht stehen.

Die Abhängigkeit selbst unterteilt sich in vier Untergruppen. ,,Bei etwa einem Drittel der Süchtigen geht es um Chaträume'', sagt Farke. Vor allem Frauen zwischen 30 und 45 Jahren versuchen, im Internet Bekanntschaften zu finden und mit ihnen zu sprechen.

Anonymer Cybersex

Durch die Anonymität des Internet würden sie sicherer werden, es sich eher zutrauen, auf andere Menschen zuzugehen. Man wird süchtig nach dem Schutz der Anonymität.

Der zweiten Gruppe gehören Sexsüchtige an. Cybersexuelle Affären und Video-Chats mit Stripperinnen fallen in diese Kategorie. Etwa 20 Prozent gehören zu dieser Gruppe, die zu einem großen Teil aus männlichen Studenten besteht.

Computerräume an Universitäten werden für Cybersex missbraucht - großzügige Öffnungszeiten, dynamische IP-Adressen und kostenloses Surfen bieten ideale Bedingungen für Abhängige.

Ein völlig anderes Ziel verfolgen etwa fünf Prozent der Süchtigen: Sie suchen manisch nach Schnäppchen im Internet, immer auf der Jagd nach billigen Angeboten. Wenn eine Auktion nachts ausläuft, wird eben der Wecker gestellt.

Die Zahl steigt

Dann gibt es noch die Spielsüchtigen. Das kann Online-Gambling wie Pokern oder Wetten sein - aber auch vermeintlich harmlose Rollenspiele. Mehr als 8,5 Millionen Menschen weltweit sind bei dem Rollenspiel ,,World of Warcraft'' angemeldet, fünf Millionen besitzen eine virtuelle Existenz bei ,,Second Life''.

Einmal der Held sein, der man im echten Leben nie wird, lautet die verlockende Botschaft. ,,Durch diese Spiele, die rapiden Zuwachs verzeichnen, wird die Zahl der Onlinesüchtigen in den kommenden Jahren stark ansteigen'', befürchtet Farke.

So sehr sich Internetsucht von anderen Abhängigkeiten unterscheidet, sind die Auslöser ähnlich: Oft ist es der Versuch, vor der Realität zu flüchten. Die Psychologin Kimberly Young veröffentlicht in ihrem Buch ,,Caught in the Web'' das Bekenntnis eines Automechanikers: ,,Ich kann einfach nicht aufhören. Es ist der einzige Ort, an dem meine Meinung zählt.'' Die Möglichkeit, Bilder und Texte publizieren zu können, gibt vielen Menschen ein Gefühl der Macht, dass ihre Meinung, die im wahren Leben ignoriert wird, im Netz Leser findet.

Janet Morahan-Martin, Psychologin an der amerikanischen Bryant-Universität, nennt dieses Phänomen das ,,Internet-Paradox'' - die Möglichkeit, sich mit Menschen aus der ganzen Welt zu vernetzen, dafür jedoch lokale Kontakte abzubrechen.

Warum noch mit Menschen aus der realen Welt interagieren, wenn es doch auch im Internet funktioniert? Ein Bewohner von ,,Second Life'' schreibt im Forum des Spiels: ,,Warum soll ich noch mit Kumpels ausgehen? Meine wahren Freunde sind nur hier.''

"Ich kann einfach nicht mehr"

Wie ernst man die Abhängigkeit vom Internet nehmen muss, zeigen auch die Bekenntnisse im Forum von onlinesucht.de. Eine Frau beschreibt, wie ihr Ehemann süchtig wurde nach Video-Chats mit anderen Frauen.

Er ließ sich Kleidungsstücke schicken und verbrachte Zeit beim virtuellen Flirten, obwohl seine Frau schwanger war. Sie verlor das Kind, er verschuldete sich, die Ehe ging in die Brüche. Die letzten Worte ihres Eintrags: ,,Ich kann einfach nicht mehr. Danke, dass Ihr das gelesen habt.''

Der Eintrag zeigt eine weitere Auswirkung von Onlinesucht: die Co-Abhängigkeit. Der Begriff beschreibt die Probleme von Menschen, die mit Süchtigen zusammenleben müssen.

Die Sucht am Netz ist einzigartig, Vergleiche mit anderen Abhängigkeiten sind schwer . ,,Das Einmalige dieser Sucht ist, verglichen mit Fernsehen und Rauchen, dass eine Zigarette greifbar und Fernsehen nicht interaktiv ist'', sagt Kimberly Young.

Bei Alkohol oder Zigaretten könne man versuchen, den Süchtigen mit Argumenten zu überzeugen. Einem Fernsehsüchtigen könne man mangelnde Interaktion vorwerfen. Was aber sagt man zu einem Menschen, der süchtig nach Chaträumen im Internet ist? ,,Ich will nicht, dass du dich mit Menschen, die deine Interessen teilen, im Internet unterhältst.''

Die Symptome ähneln sich

Aus diesem Grund haben es Angehörige oft schwer, an Internetsüchtige heranzukommen. ,,Argumente helfen oft nicht weiter, es hilft in Einzelfällen nur Entzug'', sagt Farke. Kurz: Der Computer muss weg und der Süchtige auf andere Gedanken gebracht werden.

Farke hat Anfang des Jahres die Organisation HSO gegründet: Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige. Sie befürchtet, dass viele Menschen das Thema Abhängigkeit vom Netz nicht ernst nehmen würden. Dabei ähneln sich die Symptome der Betroffenen: Isolation, Depressionen, Entzugserscheinungen. Die Sucht führt zum Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung und - in den schlimmsten Fällen - das Abrutschen in die Kriminalität.

Wie kommt man weg von der Sucht? Viele Wissenschaftler streiten noch, ob es sich tatsächlich um eine eigene Krankheit handelt oder vielmehr um ein Einzelsymptom, das andere Diagnosen überlagert. Als eigene psychiatrische Diagnose ist Internetsucht noch nicht anerkannt.

,,Unsere Daten sprechen dafür, dass sich hinter pathologischer Internetnutzung bekannte psychische Störungen verbergen, die mit der Übersetzung in die virtuelle Welt einen Symptomwandel erfahren'', heißt es in einer Erklärung der Medizinischen Hochschule Hannover.

Also bleibt vorerst nur der Entzug die wirksamste Therapie gegen Onlinesucht. Wie das geht, haben Bystrov und Taylor am Samstag vorgemacht. Die 24 Stunden haben ihnen so gefallen, dass sie auf ihrer Homepage verkünden ließen: ,,Wir haben den Tag ohne Computer so genossen, dass wir beschlossen haben, dass wir den Sonntag auch noch freinehmen. Wir sehen uns dann am Montag.''

© SZ vom 28.03.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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